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[Deutsch von Nico Eikelenboom]
Morton Feldman: Drei Schaffensperioden
by James Fulkerson.
Feldmans Suche nach der Ekstase der Augenblicks
by Frank Denyer:
Morton Feldman sagte einmal, er habe den Schritt vom 'unbekannten' Komponisten zum 'Meister' vollzogen, ohne zu wissen, wann dies geschah. Wie immer man auch Feldman und seine Arbeit auffaßt, er hinterließ ein bewundernswertes Gesamtwerk, das immer bekannter wird und jetzt auf CDs einem größeren Publikum zugänglich ist. Die meisten der verfügbaren Aufnahmen sind späte Werke, die wegen ihrer Länge sich die Möglichkeiten des Mediums CD zunutze machen.
Meiner Auffassung nach umfaßt Morton Feldmans Werk im wesentlichen drei verschiedene Perioden: eine Frühe Periode, die in den späten vierziger Jahren anfängt, eine Mittlere Periode, welche die späten sechziger und frühen siebziger Jahre umfaßt, und eine Schlußperiode von den frühen achziger Jahren an.
In seiner frühen Periode von den späten vierziger bis zu den späten sechziger und frühen siebziger Jahren werden die Werke hauptsächlich durch ihre relativ kleine Besetzung und Kürze (2-4 Minuten oder 10 Minuten) charakterisiert. In dieser Zeit definierte er seine Klangwelt sowohl in bezug auf 'Klang', d.h. auf die melodische und harmonische Intervallsbeziehung der Töne, als auch auf das 'Toucher' - wie wird ein Klang erzeugt (gestrichen, geblasen oder geschlagen) und wie verschwindet er wieder? Die Dauer der Stücke war wahrscheinlich deshalb so kurz, weil er noch immer beschäftigt war, eine persönliche Sprache zu definieren, wie nämlich Töne Kontinuität oder Diskontinuität hervorrufen könnten. Damals beherrschte Feldman die Gestaltungsprinzipien umfangreicher Formen noch nicht. Trotzdem bleibt für mich dieses Werk, das weitaus außergewöhnlichste, das Feldman je komponiert hat - Werk, in dem er seine einzigartige Anschauung und in bezug auf das Toucher seine eigenen Anforderungen an die Ausführenden entwickelte. Diese Schaffensperiode brachte eine Aufführungstradition hervor, die im allgemeinen nicht sehr bekannt ist, besonders in Europa, wo man sich meistens eher mit der Tonhöhe, der Beziehung zwischen den Tönen und der musikalischen Geste als mit 'Klang' an sich beschäftigt hat.
In seiner Mittleren Periode, welche die späten sechziger und die frühen siebziger Jahre umfaßt, erlangte Feldman einen ausgesprochen reifen Kammermusikstil. Er schrieb längere Stücke (oft ca. 20 Minuten), er behielt aber seine früher entwickelte, sinnliche Klangwelt bei und begann die 'Melodie' zu erforschen.
In den späten sechziger Jahren hatte er auch seine verschiedenen Notationsformen aufgegeben. Als ich 1973 New York verließ, um als 'Composer-in-residence' in Berlin zu leben, verbrachte ich einen meiner letzten Abende mit Feldman. Ich fragte, woran er gerade arbeite. Er sagte: "Melodie. Ich schreibe Melodien... groß angelegte Melodien, Melodien wie Puccini." (Mein Erstaunen kannte keine Grenzen!). Während dieser Zeit schrieb er für Karen Phillips die Reihe The Viola in My Life I-III und begann mit der Oboistin Nora Post zu arbeiten, die ihn zu den außerordentlich schwierigen Oboen- und Englischhornparts in Instruments I, II und III (1974-77) inspirierte. Feldman hat in dieser Musik erstmals melodische Kontinuität geschaffen. In der frühen Periode hatte er schon dazu geneigt, mit Ton- und Akkordwiederholungen oder deren Nicht-Wiederholung zu arbeiten, um in seiner Musik Augenblick auf Augenblick folgend zu kreieren. Mit seinen 'Melodien' schuf Feldman nun auch erstmals eine Kontinuität, indem er Töne, die meistens einen Ganz- oder Halbtonschritt auseinanderlagen, mit einer Melodie verschmolz.
In den frühen achziger Jahren, seiner Schlußperiode, beschäftigte Feldman sich weiterhin mit dem Verfahren, 'Materialien verschmelzen zu lassen'. Durch rhythmische Zyklen oder melodische Gesten, die sich innerhalb wiederkehrender Zyklen veränderten, wollte er eine musikalische Erzählung schreiben. Diese melodischen Gesten oder Akkorde sind oft von Stille umschlossen (Pausen in der Musiknotation). Solche Momente der Stille sind tatsächlich Teil des ganzen Musters oder Zyklus. Die Wiederholungen sowie die melodischen und rhythmischen Veränderungen innerhalb des gesamten Zyklus sind für den Komponisten, den Ausführenden und den Zuhörer Augenblicke bewußter Aufmerksamkeit. Feldman schuf große Bewußtseinsblöcke - ein Bewußtsein des Augenblicks, eine Erinnerung an Strukturen oder an den Zustand des Andersgewesenseins oder Andersseins, und mithin einen 'Erzählstil'. Mit diesem Erzählstil bewirkte er einen Durchbruch in der musikalischen Klangsprache, der es ihm ermöglichte, regelmäßig für größere Besetzungen zu komponieren (Orchester und Oper). Im Bereich der Kammermusik schrieb er von da an wiederholt Werke mit einer Spieldauer von 45 bis 60 Minuten, sogar 4 - 6- stündige Stücke, wie For Phillip Guston oder String Quartett II. Auch Bass Clarinet and Percussion fällt ohne Zweifel in Feldmans 'Späte Periode', obwohl es viel kürzer ist als jene.
Zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Laufbahn bekannte sich Morton Feldman zu Musik, die durch sehr leise Klänge charakterisiert war (oft lautete die Anweisung: 'sehr leise' oder 'außergewöhnlich leise, aber hörbar'). Fast immer verlangt er ausdrücklich: 'Jeder Klang mit minimalem Anschlag'.
Was sagen diese Anweisungen über Dynamik und die Art und Weise, wie ein Ton erzeugt wird,wirklich aus? Zweifellos bestimmen sie eine Einstellung zur Aufführung, zur Klangschöpfung, woraus sich viele andere musikalische Details ergeben. Wenn man versucht, mit einem minimalen Anschlag zu spielen, wird diese Musik jeder Aggressivität bar sein. Im Grunde ist es eine fragile, zerbrechliche, zarte Klangwelt, in der oft unklar bleibt, welches Instrument gerade spielt. Hört man eine gedämpfte Posaune oder eine Altflöte, einen Sopran oder eine Geige? Diese Methode der instrumentalen Aufführung radikalisiert die Klangfarbe jedes gespielten Tones. Eine Aufführung, die diese extremen Anforderungen an die Aufführenden ignoriert - eine Aufführung, in der aus Bequemlichkeit und Sicherheitsgründen lauter gespielt wird, kann nicht als eine Komposition Feldmans betrachtet werden. Ihm fehlen die zarten Farbschattierungen, die Nuancen im Gewicht und die Zerbrechlichkeit des Klangs, die Feldmans Musik bestimmen. Für die Ausführenden ist es leichter, ein bißchen lauter, ein wenig Vibrato zu spielen, kurz: Es sich bequemer zu machen, aber... sie spielen dann nicht Feldmans Musik.
Wir haben uns Zeit genommen, diese Musik mit den daraus resultierenden, außergewöhnlichen Erfahrungen zu spielen und aufzunehmen. Da ist es auch wichtig, daß Sie, als Zuhörer, bei der Wiedergabe die Lautstärke richtig einstellen. Die Wiedergabe muß extrem leise sein! Wenn Sie das Niveau zu hoch einstellen, wird die Einspielung nur Lärm erzeugen.
© 1995 James Fulkerson / Deutsch von Nico Eikelenboom
Feldmans Leben als Komponist ist eine Aneinanderreihung unermüdlicher Schritte, um die Wirklichkeit zu durchschauen und zu einem inneren Bereich vorzudringen, dessen Intensität nur durch die Spuren, die sie in der Erinnerung hinterläßt, erfahrbar ist.
Die Titel seiner Kompositionen geben oft Hinweise auf eine Reise zu einer verborgenen Welt, z.B. Atlantis und Journey to the End of the Night, sie beziehen sich auf mysteriöse Begegnungen oder eine besondere Wahl, die man unterwegs trifft: I Met Heine on the Rue Fürstenberg, Intersection oder Ixion (auf seiner Reise in die Unterwelt traf Orpheus Ixion, der an einem Rad gefoltert wurde).
Im Hinblick auf den Schaffensprozeß ist Feldmans Kunst eine 'im Werden begriffene' - immer geht ein neuer Feldman unter Schmerzen aus den sterbenden Resten seines vorigen Werkes hervor, so daß die Suche auf einer neuen Ebene weitergehen kann.
Diese ganze Anstrengung kann falsch verstanden werden, wenn man sie in erster Linie vom Standpunkt seiner späteren Musik aus betrachtet. Denn die Arbeit seines ganzen Lebens ist eine einheitliche Geschichte, die früheren Werke sind deren entscheidende Anfangsverse. Für das Verständnis seiner späteren Werke sind seine Ursprünge von größerer Bedeutung als unser Wissen um das, was er schließlich erreichte.
Er wurde 1926 in New York geboren; im Alter von zwölf Jahren nahm er bei Maurina-Press Klavierstunden; sie war eine gute Freundin von Skriabin gewesen und eine Schülerin Busonis. Mit fünfzehn fing er bei Wallingford Riegger - einem ehemaligen Schüler von Max Bruch - mit der Kompositionslehre an. Als er achtzehn Jahre alt war, wechselte er zu Stefan Wolpe, einem anderen Schüler Busonis. In dieser Zeit begegnete er wiederholt Varèse, der Debussy noch gekannt hatte. Durch Zufall schloß Feldman über Wolpe Freundschaft mit dem Pianisten David Tudor, für den er das Stück Illusions (1949) komponierte. Später wurde er seinem letzten und wichtigsten Mentor John Cage, einem Schüler Schönbergs, vorgestellt. Dank dieser Verbindungen konnte er für sein Werk mit Recht sowohl auf das Erbe der Kernländer Europas als auch auf die Traditionen der Neuen Welt Anspruch erheben.
Die Suche Feldmans war im Grunde die des romantischen Künstlers, aber seine Bedeutung am Ende des 20. Jahrhunderts läßt sich zum Teil auf eine paradoxe Begabung zurückführen: Er war seiner eigenen inneren Poesie verbunden, konnte aber gleichzeitig die objektiven und abstrakten auditiven Beziehungen mit einschließen, die entstanden, wenn gewisse kompositorische Zwänge aufgegeben, und Klänge vom Gebot des subjektiven Ausdrucks befreit wurden. Oberflächlich betrachtet könnte man denken, daß die Unbestimmtheit für Feldmans reifes Werk nur wenig bedeutete, aber nichts davon wäre denkbar gewesen, hätte er nicht seine starke Verwurzelung in dem Radikalismus, der zuerst das Zufallsprinzip akzeptierte, beibehalten.
Only (1947) |
Text von R.M. Rilke
aus "Sonnette an Orpheus", Teil I, Nr. 23
O erst dann, wenn der Flug
um in lichten Profilen,
erst, wenn ein reines Wohin
wird, überstürzt vom Gewinn |
Only, Feldmans erste veröffentlichte Komposition, erinnert an die modale Melodie, die er 1941 komponierte und später am Schluß von Rothko Chapel (1971) aufnahm. Trotz der Widerhaarigkeit des Textes vermeidet Feldman sentimentale Naivität, indem er seine Melodie in ihrer unverhüllten Schlichtheit präsentiert, ohne die harmonische Begleitung, die zu dieser Zeit als durchaus normal gegolten hätte. Vielleicht hat The Wonderful Widow of Eighteen Springs von Cage (1942) ihn inspiriert. Anders als bei Feldman wird Cages Sopran in technischer Hinsicht noch vom Klavier begleitet, sei es, daß der Pianist nur die letzten verdorrten Reste dieser Tradition vertritt, indem er nur mit den Fingern und Knöcheln auf den Klavierdeckel klopft. Aber Cage fordert von sich selbst absolute Disziplin, indem er für den Vokalpart nur drei Noten verwendet, was Feldman noch nicht möglich ist, obwohl er genau dieselben Noten als Basis für sein eigenes modales Material in den Strophen 1 und 3 übernimmt.
Cage 'The Wonderful Widow' | A | B* | E | |||||||
Feldman 'Only' verses 1 & 3 | G | A | B* | C | D | E | ||||
verse 2 (new material) | C | D* | E | F# | G | A | Bb | |||
* = central note of modal system of piece/part of piece. |
Abgesehen von diesem Werk war Feldmans Schaffen am Ende der vierziger Jahre ziemlich atonal, aber im Jahre 1950 fand er seinen wirklichen Anfang, als er in der Projections-Reihe (1950 - 1951) die herkömmliche Notation zugunsten einer graphischen Schreibweise aufgab.
Projection 1 | Solo Cello |
Projection 2 | Flöte, Trompete, Violine, Cello, Klavier |
Projection 3 | Zwei Klaviere |
Projection 4 | Violine und Klavier |
Projection 5 | Drei Flöten, drei Celli, Trompete, zwei Klaviere |
In der Gruppe um Cage wurde damals viel von Zufall und Unbestimmtheit gesprochen. Feldman hat über den außergewöhnlich kühnen Schritt in die graphische Notation gesagt: "Ich wollte nicht so sehr 'komponieren', sondern Klänge in die Zeit projizieren, befreit von einer kompositorischen Rhetorik für die hier kein Platz war." Die Ergebnisse sind überraschend abstrakt. Aus historischer Sicht sind sie die allerersten Partituren, welche die exakte Tonhöhe jeder Note der freien Wahl des Musikers überlassen - Cage um einige Jahre vorgreifend. Außerdem sind sie die ersten graphischen Partituren, die aus der New Yorker Schule hervorgegangen sind.
Feldman hat die graphische Notation nie als Ersatz für die traditionelle Schreibweise auf Notenlinien betrachtet, sondern nur als alternative Arbeitsmethode. Er beschreibt sie durch den Vergleich mit einem Maler, der es manchmal vorzieht, in Holzkohle oder einem anderen verwandten Material zu arbeiten. Die große Anzahl graphisch notierter Werke Feldmans in den frühen fünfziger Jahren wird von der Zahl derjenigen Werke, die er in der gleichen Zeit in traditioneller Notation schrieb, noch übertroffen. Nur im Jahre 1951 entstanden mehr graphisch (8) als konventionell notierte Stücke (3). Zwischen 1954 und 1957 schrieb er gar keine graphischen Kompositionen, aber 1958 entstanden wieder sehr wichtige Werke in dieser Notation: Ixion (1958), Atlantis (1959) und Out of Last Pieces (1961). Das letzte graphische Werk, In Search of an Orchestration, erschien 1967.
Für alle Stücke in der Projections-Reihe wird eine ähnliche Notation verwendet. In den Anweisungen wird erklärt, daß jeder rechteckige Kasten vier Schläge dauern kann. Die darüber liegenden Quadrate oder Rechtecke geben einzelne Noten an; die Tondauer wird durch den waagerecht darüber gelegten Raum bestimmt. Eine genaue Metronomzahl ist angegeben. Die Tonhöhe steht nur in Beziehung zu diesem allgemeinen Raum: hoch, mittel, tief.
Innerhalb dieses Bereichs kann der Musiker jeden Ton wählen. Für Streicher bestimmt diese Notation auch die Klangfarbe, d.h. arco, pizzicato oder Flageolett. Sofort erheben sich bestimmte Fragen. Sollte man zum Beispiel die Tonhöhe spontan während der Aufführung, oder schon im voraus bestimmen? Es wäre schließlich möglich, eine traditionell notierte Partitur vorzubereiten, obwohl dies die wirkliche psychologische Herausforderung und vor allem den Geist dieser Stücke untergraben würde. Es sind aber auch Zwischenlösungen denkbar; so könnten die Ausführenden für sich gerade diejenigen Tonhöhen auswählen, die in Sequenzen auftauchen, wo eine rasche Entscheidung möglicherweise den Verlust von technischer Kontrolle zur Folge haben könnte. Zwei weitere Fragen: Sollte das Tonmaterial innerhalb der chromatischen Tonleiter liegen, oder kann wirklich jede Tonhöhe verwendet werden, solange sie den Anweisungen gemäß innerhalb des gegebenen Raumes liegt? Sollte jedes Ensemblemitglied durchaus derselben Methode folgen, oder darf jeder seine eigenen Lösungen erarbeiten, ohne sie in eine gemeinsame Form zu zwängen?
In der vorliegenden Aufnahme von Projections 2 und 5 wählen die Spieler ihr Material spontan während der 'Performance'. Die kleinen Zögerlichkeiten und andere Unvollkommenheiten, die man unter diesen Umständen unmöglich unter Kontrolle haben kann, heben Feldmans enge künstlerische Nähe zu John Cage während dieser Zeit wirkungsvoll hervor. Feldman schrieb: "John lebte damals im obersten Stock eines Mietshauses in der Grand Street, mit Blick auf den East River... Einige Monate später (d.h.1950) zog auch ich in dieses magische Haus, nur daß ich im zweiten Stock wohnte, wo ich nur einen Schimmer vom East River auffing. Ich war mir damals der Symbolik dieser Tatsache klar bewußt."
Bei der Aufführung von Projections 1, 3 und 4 (alle Soli und Duos) wird eine alternative Methode angewandt. Die Spieler beschränken sich auf die chromatische Tonleiter und haben auch vorher einige Tonhöhen festgelegt, um alles unter Kontrolle zu haben. Das Ergebnis zeigt den anderen Haupteinfluß auf Feldman: den Weberns. Besonders deutlich geht dieser aus Projection 4 hervor. Der Hörer kann auf diese Weise beide Methoden miteinander vergleichen.
Die Interpretation der Notationsweise für Projection 1 enthält noch ein Problem. Während in allen anderen Projections die Anweisung immer 'leise' lautet, fehlt diese wesentliche Andeutung für Projection 1, obwohl übrigens derselbe Wortlaut verwendet wird. Der Feldman-Forscher Keith Potter hält dies nur für ein Versehen des Komponisten, aber es könnte eine andere Bewandtnis mit der Sache haben. Im Februar 1951 - gleich nach Abschluß des Projections-Zyklus - verwendete Feldman in seinem Orchesterwerk Intersection 1 dieselbe Notation, jedoch mit völlig anderen Interpretations-anweisungen. In diesem späteren Werk wird für die Dynamik nicht mehr die Anweisung 'leise' gegeben, sie kann dagegen "von den Ausführenden frei gewählt werden". Diese Änderung hätte den Komponisten in seinen Anweisungen für Projection 1 besonders vorsichtig machen müssen und sehr aufmerksam auf jede Stelle, wo unerwünschte Mehrdeutigkeiten hätten auftreten können, zumal er sowohl den Projections-Zyklus als auch Intersection 1 einige Monate später, nach August 1951, selbstverständlich zusammen mit den Anweisungen, noch einmal geschrieben haben muß. In jenem Monat war Intersection 2 abgeschlossen; die veröffentlichte Fotokopie erschien aber in der unverkennbaren Handschrift von - Cage , nicht in der Feldmans. An anderer Stelle hat Feldman erklärt: "Eine ganze Woche lang waren wir beschäftigt, Verschiedenes abzuschreiben, und er hat mir gezeigt, wie man eine Seite einrichtet. Er faßte Professionalismus in dem Sinne auf, daß man alles schön gestalten und fein säuberlich präsentieren sollte." Da die Partituren zu Projections tatsächlich - auch in Feldmans eigener Handschrift - sehr klar sind, kann dies nur bedeuten. daß sie, zusammen mit Intersection 1, noch einmal abgeschrieben wurden, und zwar nach dieser Unterrichtung, zu einem späteren Zeitpunkt desselben Jahres.
Intersection 2 | Solo Klavier (1951) |
Intersection 3 | Solo Klavier (1953) |
Intersection 4 | Solo Cello (1953) |
Diese Werke sind in einer anderen Form graphischer Notation geschrieben. Hier ist es nicht notwendig, daß die Töne exakt am Anfang einer notierten 'Zeitlänge' beginnen; sie können überall anfangen, solange das vorgeschriebene Ende genau eingehalten wird. "...Ereignisse sollten in einer bestimmten Zeitspanne stattfinden. Nichts brauchte genau zu Beginn eines Zeitabschnitts einzutreten; wie Sie wissen, kann es überall geschehen - wie beim Überqueren einer Straße. Deshalb nannte ich diese Stücke Intersection ('Kreuzung'). Ich sah die Zeit metaphorisch als Intervall zwischen dem grünen und dem roten Licht der Ampel." Die Intersections stellen eine entscheidende Änderung in Feldmans Zeitbegriff dar: Zeit ist nicht mehr eine Folge von Schlägen, durch welche die verschiedenen musikalischen Teile ausgerichtet werden, sondern eine Folge von 'windows of opportunity' (Fenster von Möglichkeiten), in denen ganz verschiedenartige und komplexe Ereignisse in mannigfaltigen Beziehungen stattfinden können. Obwohl von diesem Konzept in Intersections nur sehr bescheiden Gebrauch gemacht wurde (die 'Fenster' sind wirklich sehr kurz, nur ein Bruchteil einer Sekunde), tauchte das 'Fenster' später als Zeitfeld oder Erinnerungssphäre sehr ausgedehnt wieder auf und wurde in dieser Form ein zentrales Element in Feldmans Kunst, wie aus der Durations-Reihe und späterem Werk hervorgeht. (1951 erfolgte sowohl die Fertigstellung des einzigen Tonbandstückes von Feldman, das gleichfalls Intersection heißt, als auch eines anderen Orchesterwerks mit dem Titel Marginal Intersection.)
Die für Intersections 2-4 verwendete graphische Notation zeigt Zahlen in Kästchen, welche die Anzahl der innerhalb des jeweiligen Fensters zu spielenden Töne angeben. Wieder sind die Register als hoch, mittel und tief gegeben, und zu jedem Stück gibt es präzise Metronomangaben. Die Lautstärke wird vom Ausführenden frei gewählt.
Intersection 3 und 4 versetzen uns in Bereiche extremer Virtuosität. Durch die hohe Dichte der Noten, die Feldman verlangt, ist es dem Ausführenden nicht länger möglich, auch nur zu erwägen, die Töne spontan zu wählen; es ist notwendig, andere Strategien zu entwickeln. In Intersection 3 muß die Tonhöhe manchmal der Ausführbarkeit entsprechend gewählt werden, denn an bestimmten Stellen sollen innerhalb einer Drittelsekunde bis zu 40 Tönen gespielt werden.
Intersections 2 und 3 wurden für David Tudor geschrieben. Er war ein pianistisches Phänomen - anscheinend konnte nichts, was aus der europäischen Avantgarde oder von den New Yorkern stammte, ihn abschrecken. Die vier Komponisten im Kreis um Cage (John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff und Earle Brown), die selbst alles andere als Virtuosen waren, schätzten sein Talent sehr.
Die vierte Intersection erforscht die Virtuosität auf dem Cello durch eine ähnliche Notation. Allerdings "geben hier Zahlen die Anzahl der Töne an, die (wenn möglich) gleichzeitig gespielt werden sollen... wenn nicht anders notiert, ist die Spielweise immer pizzicato." In diesen Anweisungen wird der Cellist die Worte in Klammern bestimmt freudig begrüßen, wenn er sich mit einer Anzahl scheinbarer Unmöglichkeiten konfrontiert sieht, darunter z.B. zehn tiefe und drei hohe Noten in einem einzigen Kästchen! Vielleicht muß der Cellist bestimmte Aufführungsnormen neu definieren, um den technischen Herausforderungen dieses Stückes gerecht zu werden. Aber auch in musikalischer Hinsicht stoßen alle drei Intersections hier und da in ungewöhnliche Bereiche vor und eröffnen alternative Pfade, die Feldman vielleicht weiter verfolgt hätte, hätte er nicht andere Wege eingeschlagen.
Eines der Stücke der fünfziger Jahre, die den Keim für Späteres in sich trugen. Die vier Klaviere spielen gleichzeitig unterschiedliche Versionen derselben Partitur. Sie beginnen zusammen, streben dann aber allmählich auseinander, denn innerhalb der allgemeinen, strengen Vorschrift 'langsam' ist die Länge des Tons leicht variabel; außerdem gibt es andere Unwägbarkeiten, nicht zuletzt die vielen unbestimmten Pausen. Der Zuhörer jedoch erfährt nur ein Universum voll mysteriöser Schönheit und stetig zunehmender Komplexität, das sich ruhig, fast still ausdehnt. Dieses besondere Werk bildete den Anfang einer bedeutenden Entwicklung, die in der darauffolgenden Reihe von Stücken für Klavier oder Klaviere immer mehr Gestalt gewann. Ihr Nachhall ist bis an Feldmans Lebensende spürbar.
Manche Komponisten sind bemüht, auf ihren ursprünglichen Ideen aufzubauen. Feldmans Instinkt brachte ihn oft dazu, sein Material zu reduzieren, um dessen verborgene Essenz klarer hervorzuheben. Sofort nach dem Piece for Four Pianos verwendet er weniger flamboyante Mittel zur Verwirklichung seiner Idee. Nun sind es nur zwei Klaviere, die gleichzeitig zwei Versionen derselben Partitur vorstellen; wiederum fangen sie gleichzeitig an und divergieren danach allmählich. Die Unterschiede zwischen diesem Stück und dem vorherigen sind bezeichnend. Jetzt dominieren einfachere, aus nur zwei Tönen bestehende Akkorde. So erhält jeder Ton mehr Individualität und gleichzeitig können die Pianisten den Klang besser kontrollieren, was ihnen eine weitere Reduktion der Lautstärke ermöglicht. Die Anweisungen lauten 'langsam' und 'so leise wie möglich'. Außerdem erreicht Feldman eine zunehmende Flexibilität, nicht zuletzt dadurch, daß jede Begebenheit jetzt nur verdoppelt, und nicht automatisch vervierfacht wird.
Während die Klaviere allmählich divergieren, nimmt auch die Verschiedenheit in dem Tonmaterial ab, bis es in Wiederholungen (die Feldman später 're-spellings' nannte) von nur vier Tönen zur Ruhe kommt: B C D Des, Töne die auch in vielen Oktavrückungen auftauchen. Musikalisch scheint dies einen stabilen Zustand zu schaffen, der, nachdem er sich etabliert hat, endlos fortdauern könnte. (Man ahnt hier schon die späteren, langen Werke.).
Wieder einen Schritt weiter. Jetzt ist die Klangquelle auf ein einziges, allerdings von zwei Pianisten gespieltes Klavier reduziert. Sie gehen unabhängig voneinander ihren Weg, und jeder hat einen eigenen Part, der nur aus einer einzigen Tonreihe besteht, die mit Handwechsel ausgeführt werden kann (obwohl später im Stück einige Akkorde in der Oberstimme erscheinen).
Die Kargheit des Materials erlaubt es, noch leiser zu spielen, aber um dies zu erreichen, muß die physische und psychische Vorbereitung für jede einzelne Note auch intensiviert werden, so daß jeder Ton zum Selbstzweck wird. Es scheint, daß wir die Grenze der Stille erreichen, die Schranke, wo das Empfindungsvermögen des Musikers und die Möglichkeiten des Instruments enden. Soweit konnte Feldman damals vordringen. Piano Four Hands eröffnet im Vergleich zu seinen Vorgängern eine abstraktere Klangwelt, jedoch ändern sich seine wesentlichen Merkmale in der ihm bemessenen Zeitspanne nicht. Man fühlt sich fast wie die alten Astronomen, wenn sie nicht den Bewegungen der Planeten, sondern jener fernen, mysteriösen Gegend der 'Fixsterne' nachsannen.
Nachdem Feldman mit seinen Erfahrungen im Komponieren dieser Klavierwerke und deren fortschreitende Reduzierungen im Vergleich zu seinem ersten Beispiel der fälschlich als 'Rennbahnnotation' bezeichneten Schreibweise gewissermaßen an einem Endpunkt angelangt ist, ändert er nun den Kurs seines Schaffens, indem er dieses winzige Embryo zu kultivieren anfängt: Zunächst wirft es das Schwarz und Weiß des Klaviers ab, aber in der Klangfarbe von Two Instruments für Horn und Cello (Mai 1958; hier nicht aufgenommen) kehrt es fast sofort zurück. Two Instruments ist der unmittelbare Nachfolger von Piano Four Hands und bildet den Übergang zu Durations 1-5.
Einige Worte noch über ein anderes Klavierstück, bevor wir uns die Durations-Reihe ansehen.
Sowohl in der Spanne seines kreativen Lebens, als auch in den musikalischen Formen einzelner Kom- positionen finden wir dieselbe Ebbe und Flut-Bewegung: Reduzierung, wenn sich der Brennpunkt auf das 'Immer weniger' verengt, und die Ausdehnung, wenn er seinen Griff langsam lockert.
Sechs Jahre nach Piano Four Hands sehen wir, daß Feldman wieder an einem äußerst extremen Punkt angelangt ist, aber in der dazwischenliegenden Zeit hat er einen weiten Weg zurückgelegt. In Piano Piece 1964 fällt sowohl die Anwesenheit als auch die Qualität der Stille besonders auf. Die Stille wird als ein uneinheitliches, sich kaum bewegendes Kontinuum gedacht und notiert, zu dem kleine Klangpartikel hinzukommen; auch werden eben dadurch musikalische Ereignisse beherrscht - dies aber seltener. Dieses subtile Zeitnetz ist teilweise bemessen, aber nur mit einem Taktschlag, der selber variabel ist und zwischen MM 42 und MM 76 liegt. Auch ereignet sich manches, was eine weitere Modifizierung, Unterbrechung oder Ausdehnung dieses Rahmens bewirkt; dabei kann es sich um Klänge handeln, deren Länge von der natürlichen Dauer des Verklingens eines Klaviertons abhängt, um die vielen Pausen, um ungenaue Tonlängen und Zäsuren.
Die Klänge selbst sind unglaublich kurz; oft besitzen sie nicht mehr Substanz als Staubkörner in einem weiten Raum. Ungefähr zwei Drittel von ihnen sind als sogenannte grace notes (in der magischen Terminologie) notiert, und als solche schweben sie teils innerhalb, teils außerhalb des Zeitrahmens. Feldman unterscheidet zwischen längeren und kürzeren grace notes; keine aber ist sehr kurz. Eine grace note kann allein stehen - zwischen Ruhepausen schwebend - oder als langer Vorschlag zu einem Takt erscheinen, der selber leer ist. Wenn der Wasserspiegel eines Sees während einer Dürreperiode sinkt, kann vorher Verborgenes plötzlich deutlich zum Vorschein kommen. Ähnliches ereignet sich, wenn man die Musik, wie es hier geschieht, reduziert: Scheinbar unhörbare Klänge treten klar hervor. Am auffälligsten sind die Geräusche der Klaviermechanik, die denn auch in das Stück integriert werden, wie sehr der Pianist auch versucht, sie zu minimalisieren.
Durations 1 | Altflöte, Violine, Cello, Klavier |
Durations 2 | Cello und Klavier |
Durations 3 | Violine, Tuba, Klavier |
Durations 4 | Violine, Cello, Vibraphon |
Durations 5 | Violine, Cello, Horn, Vibraphon, Harfe, Klavier/Celesta |
Als erstes Werk dieser Reihe entstand Durations 2 (2. Februar 1960); als Stück ist es Two Instruments von Mai 1958 (s. o.) recht ähnlich. Inzwischen hatte Feldman Last Pieces für Soloklavier komponiert, wobei er dieselbe Form herkömmlicher Notation verwendete, und Atlantis, ein Tanzstück für 17 Musiker in der graphischen Notation, die uns von Intersections 2-4 bekannt ist.
Die Zählung von Durations für Cello und Klavier als zweites Stück dieser Reihe, obwohl es als erstes komponiert wurde, wirft die folgende Frage auf: Sind diese Werke vielleicht als eine einzige Sequenz angelegt, die man als Ganzes hören sollte? Obwohl Feldman sie gerne einzeln aufführte, wollte er doch bei einer frühen Schallplattenaufnahme bei Time Records die ersten vier Stücke als Einheit verstanden wissen (Ihm war nur eine Seite der Schallplatte angeboten worden; dafür wären alle fünf Durations zu lang gewesen). Meiner Ansicht nach kommen Durations 1-5 besser zur Geltung, wenn man sie zusammen hört, und auch Feldmans Numerierung ermutigt uns, sie als einen Zyklus zu betrachten (Dasselbe Argument ist noch zwingender für Vertical Thoughts, wie wir noch sehen werden).
Jede der fünf Durations hat ein besonderes instrumentales Timbre und einen eigenen Klangfluß, trotz der Tatsache, daß fast die ganze Musik langsam ist. Feldman schrieb: "In Durations erreiche ich einen komplexeren Stil, in dem jedes Instrument sein eigenes Leben in seiner eigenen Welt führt. In jedem Stück beginnen die Instrumente gleichzeitig und können dann innerhalb eines vorgegebenen Tempos ihre eigenen Tonlängen wählen... Obwohl die Stücke auf dem Papier identisch aussehen, entstanden sie doch auf recht unterschiedliche Weise."
Die genauen Tonhöhen und ihre Abfolge sind traditionell notiert. Dieser Zyklus zeigt eine beträchtliche Erweiterung von Feldmans Zeitbegriff. Da die Parts der Instrumente nicht starr aneinandergefügt sind, kann Feldman sie zu neuen Beziehungen verflechten, entstammen sie doch demselben Bereich des kurzen Gedächtnisses. Dadurch treten gemeinsame Resonanzen auf, aber nur dann, wenn die Spieler in der Zeit nicht mehr als ungefähr 30 bis 45 Sekunden voneinander abweichen; wenn sie weiter auseinanderstreben, werden diese Resonanzen schwächer. Deshalb ging es Feldman bei Aufführungen von Durations immer darum, daß die einzelnen Spieler nie zu weit vorrückten oder zurückblieben. Die Ausführenden müssen Methoden entwickeln, dem vorzubeugen. Feldman spielt aber ein wenig falsch, wenn er bestimmte Zusammenstöße scheinbar zufällig stattfinden läßt, obwohl er selber erst die Umstände geschaffen hat, die es unmöglich machen, daß solche 'Unfälle' nicht geschehen.
In allen Durations, außer Nr. 2, kann man einen weiteren Fingerabdruck Feldmans finden. Gelegentlich kommen in dem Geigenpart sehr weit arpeggierte pizzicato-Akkorde vor, die auf Anweisung des Komponisten auf ungewöhnliche Weise ausgeführt werden sollen: Der Ausführende muß nämlich eine Saite nur einmal zupfen und damit alle darauf möglichen Töne hervorbringen. Dies mündet in irrationale, Feldman kennzeichnende Rhythmen und Klangfarben (z. B. gegen Ende der Durations 1). Nach dem Anfangsstück wirkt das viel kürzere Durations 2 zurückhaltend und nüchtern (Piano Four Hands nicht unähnlich). Durations 3 ist dann plötzlich wieder breiter angelegt und außerdem ist es das einzige mehrsätzige Stück dieser Reihe. Die vier Teile sind mit 'langsam', 'sehr langsam', 'langsam' und schließlich 'schnell' überschrieben. Gewichtung und Dichte - beide variabel - verlagern sich ständig. Feldman ist jetzt in der Lage, Klänge außerordentlich subtil zu bündeln oder auszudehnen, als ob er statt greifbarer Dinge lieber Schatten bezwänge.
Durations 4, im April 1961 geschrieben, ist schneller, und obwohl die Längen immer noch individuell gewählt werden können, liegen sie alle in dem beschränkten Raum zwischen MM 72 und MM 92. Die Instrumentation, zusammen mit einer Vorliebe für Obertöne und pizzicati verleiht dieser Musik einen seltsam flüchtigen, illusionshaften Charakter. Durations 5, im darauffolgenden Monat geschrieben, erweitert dasselbe instrumentale Ensemble um Horn, Harfe und Klavier/Celesta. Dadurch bleibt eine Resonanz des Charakters des vorgehenden Stückes erhalten. Jedoch hat es seinen ganz eigenen, flüchtigen Charakter, trotz der Verwendung des größten Ensembles in diesem Zyklus. Dies liegt zum Teil an dem Vorherrschen von Tönen, die schnell ausklingen.
Vertical Thoughts 1 | Zwei Klaviere |
Vertical Thoughts 2 | Violine und Klavier |
Vertical Thoughts 3 | Sopran, Flöte, Horn, Trompete, Posaune, Klavier/Celesta, Schlagzeug, Violine, Cello, Kontrabaß |
Vertical Thoughts 4 | Solo Klavier |
Vertical Thoughts 5 | Sopran, Celesta, Tuba, Klavier, Violine, Schlagzeug |
Diese herrliche Reihe von Werken aus dem Jahre 1963 ist ein besonderer Höhepunkt in dem Feldman-Kanon. Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine Serie von Stücken, die vorbestimmt war, als Ganzes gespielt zu werden, obwohl keine Aufführungstradition dies belegt.
Die Entwicklung von dem monochromatischen Klang der zwei Klaviere in Nr. 1 über die beschränkte Einführung von Farbe in Nr. 2 (Violine und Klavier) zu der vollen, reichen Farbpalette des zentralen dritten Stückes - das gleichzeitig die einzige Textzeile des Zyklus : "Life is a Passing Shadow" vorstellt - zwingt zu angespanntem Zuhören, zumal das darauffolgende kurze und ziemlich schnelle Klavierstück (Nr. 4) mit seiner Fülle an illusorischen Mehrdeutigkeiten kaum für sich stehen kann. Es ist jedoch für das sich entfaltende Drama absolut notwendig, da es den Übergang bildet zu dem gewichtigen fünften Stück mit seiner alternativen Vertonung desselben Textes.
Für diese fünf Stücke verwendet Feldman eine neue Form modifizierter herkömmlicher Notation, entworfen für das sich immer wandelnde, multidimensionale Zeitkonzept, das nun zur Hochblüte gekommen ist. Manchmal werden Töne oder Momente der Stille streng durch das Metronom bemessen, manchmal hängt die Länge von dem natürlichen Ausklingen eines Tons, der Atemlänge des Spielers oder dessen instinktivem Gespür für Pausen ab. Wie schon der Titel suggeriert, gibt es harmonische Koordinate und werden viele Zusammenhänge angedeutet; aber alles wird durch eine subtile Denkweise zustandegebracht. So enthält Vertical Thoughts 2, das genau 5 1/2 Minuten dauert, 22 Tempoänderungen und 14 verschiedene Metronomangaben (manche recht schnell). Jede davon gilt nur für die Dauer eines Satzes oder erscheint lediglich für eine eintaktige Pause. Dieses besondere Werk ist eine Glanzleistung sinnlichen Bewußtseins, in dem jeder Ton und jede winzige Änderung im Timbre gleichsam hypnotisierend wirkt. In dem Text 'Life is a Passing Shadow', der in Vertical Thoughts 3 sowie in Vertical Thoughts 5 erscheint, lebt vielleicht eine vage Erinnerung an eine berühmte Stelle in Macbeth (V, 5) fort:
Life's but a walking shadow, a poor player, That struts and frets his hour upon the stage, And then is heard no more; it is a tale Told by an idiot, full of sound and fury, Signifying nothing. |
Es mag etwas ungewöhnlich erscheinen, daß in zwei verschiedenen Vertonungen derselbe Text verwendet wird, aber ihre Beziehung ist der Schlüssel zum Verständnis des Werkes. Beide Male erscheinen die Einzelwörter des Textes eines nach dem anderen und werden durch recht ausgedehnte Einschübe reiner Instrumentalmusik voneinander getrennt. Jedes Stück verwendet nur einen Akkord für die Vertonung jedes der fünf Wörter, und diese Text-Akkorde haben eine ganz eigene Farbe, die dadurch akzentuiert wird, daß die beteiligten Instrumente in der Musik keine weitere Rolle spielen. Vier der fünf Töne, die den Text-Akkord in Vertical Thoughts 3 bilden, erscheinen aufs neue als Teil des aus acht Noten bestehenden Text-Akkords in Vertical Thoughts 5, einige in anderen Oktaven.
In beiden Vertonungen sind die Akkorde, die den Text tragen, die einzigen Teile, die einer strikten Metronomangabe unterliegen. (In Nr. 3 wechseln sie mit jedem Wort, in Nr. 5 haben alle Wörter dieselbe Länge, wodurch eine Art Gleichgewicht erreicht wird. Es ist, als ob diese kleinen Inseln der Sprache, der Rationalität, der Zeit und des Raumes von einem älteren, mysteriöseren und unbestimmbaren Kontinuum umfaßt und gebändigt werden; sie wecken einen ähnlichen Eindruck wie die Blue Poles in Jackson Pollocks gleichnamigem Gemälde, wo das Element des Fließens betont wird.
In Vertical Thoughts 3 haben die Teile zwischen den Text-Akkorden eine vollere Farbenpracht, während der Text-Akkord selber im Vergleich dazu einen beschränkteren, wenn auch charakteristischen Farbton hat. Die Situation in Vertical Thoughts 5 ist völlig umgekehrt: Der Text-Akkord läßt sich mit dem in Nr. 3 vergleichen, ist aber ein wenig heller; er zieht, von dem eintönigen Kontinuum tiefer, dunkler Klänge der Schlaginstrumente umgeben, alle verfügbare Farbe auf sich. Es liegt noch ein anderer Kontrast vor: Nr. 3 beginnt mit rein instrumentaler Musik; es dauert lange Zeit, bevor das erste Wort geäußert wird. Nr. 5 fängt mit der Sängerin an, die 'Life' proklamiert. Aber auf das Schlußwort 'Shadow' folgt die Leere, die sich scheinbar unberührt von der entrinnenden Zeit aufs neue in ihrer unendlichen Präsenz manifestiert.
© 1997 Frank Denyer / Deutsch von Nico Eikelenboom
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