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Program notes for a concert with the ensemble musikFabrik in Cologne, February 2000.
Es ist so bemerkenswert wie rätselhaft, dass mit Stockhausen, Cage und Feldman drei der wichtigsten Komponisten der Nachkriegszeit Ende der sechziger Jahre fast zeitgleich und unabhängig voneinander zur konventionellen Notation zurückfinden: Stockhausen mit "Mantra", Cage mit "Cheap Imitation" und Feldman mit "On Time and the Instrumental Factor". Noch spannender wird der Fall, wenn man die parallele Entwicklung von Feldmans "best friend in art", dem Maler Philip Guston, hinzuzieht. Die neue Gegenständlichkeit seiner Gemälde hatte Feldman 1970 bei einer Ausstellung zutiefst verunsichert - die Freundschaft zerbrach an seinem Zweifel. Warum Feldman damals nicht verstand, was Guston bewegte, ist um so merkwürdiger, als auch er sich seit geraumer Zeit vom Ideal reiner Abstraktion entfernte und - wie Guston - in seinen neuen Werken eine Vermittlung suchte mit dem Konkreten. Diese Veränderung kündigt sich schon in den ungewöhnlichen Titeln an mit ihren anekdotischen oder biographischen Anspielungen: sei es auf den Tod der einstigen Klavierlehrerin in "Madame Press Died Last Week at Ninety", auf einen Spaziergang in Paris in "I Met Heine on the Rue Fuerstenberg" oder - im Zyklus "The Viola in My Life" - auf eine neue Geliebte, die Bratscherin Karen Phillips.
Die traditionelle Notenschrift bietet Feldman entscheidende Vorteile. Dank ihrer Präzision kann er sich auch auf gefährliches Terrain wagen. Gefahr vermutet Feldman vor allem auf Seiten der Dynamik. In der Dialektik von Laut und Leise sieht er eine Spielart des Kontrapunkts, ein Teil eines kompositorischen Konzepts also, das auf Klang übertragen, nicht aber aus ihm abgeleitet wird. Im "Viola"-Zyklus nun experimentiert Feldman erstmals mit der dynamischen Differenzierung von Einzelstimmen. Sein eigentliches Thema ist das Crescendo und Decrescendo als Möglichkeit, einer Klangfläche Tiefe zu verleihen . In der Bratschenstimme von "The Viola in My Life 2" wird die dynamische Bewegung sehr behutsam verbunden mit dem Auf und Ab einer kleinen melodischen Linie, im Ensemble sind es stehenden Klänge, die durch Dynamikzeichen gewölbt werden. Den Gesamteindruck vergleicht Feldman mit dem "Versuch eines Vogels, über einer begrenzten Landschaft emporzusteigen". - Mit der erstmaligen Exponierung einer Einzelstimme innerhalb eines Instrumentalensembles ist für Feldman ein wichtiger Schritt getan. Das Tor ist offen zu den großen Solokonzerten der siebziger Jahre.
Program notes for a concert with the ensemble musikFabrik in Cologne, December 1999.
Seit dem Ende der fünfziger Jahre vermeidet Morton Feldman dynamische Differenzierungen. Das einmal gesetzte "very soft" oder "extremly quiet" (oft fehl sogar das) gilt unterschiedslos, und die wenigen Ausnahmen von dieser Regel bestätigen sie nur. Doch nicht Ideologie hält Feldman so lange in der gleichmäßig schwebenden Leisheit, sondern das Fehlen einer Antwort auf die Frage, wie sich eine differenzierte Dynamik vereinbaren läßt mit dem Streben nach musikalischer Abstraktheit. In diesem Streben allein verbirgt sich ein Hauch von Ideologie.
Abstraktion ist Feldmans erstes Gebot. Es besagt, dass Klänge für nichts anderes einstehen sollen als für sich selbst. What you hear is what you get. Feldmans Suche nach dem Abstrakten führt ihn, wie zuvor bereits viele Maler, zum Problem der Oberfläche. Ist in der Malerei die Oberfläche das Gegebene und der mögliche Gegenstand des Bildes die Illusion, die erst noch zu schaffen ist, so kehrt sich, erkannte Feldman, in der Musik die Situation um: Ihr Gegebenes ist der Gegenstand, die Konstruktion, die historisch vermittelt ist, während Oberfläche nur im Sinne einer Illusion realisiert werden kann. Offenbar verlangt ein Gelingen dieser Illusion den Verzicht auf Dynamik. Denn Dynamik erzeugt - weil sie Dialektik ins Spiel bringt - eine Tiefenwirkung: etwas hebt sich von etwas anderem ab. Dass Feldmans Musik für ein Jahrzehnt noch leiser und noch undurchschaubarer - weil konstruktiv undeutlicher - wird, hängt somit zusammen. Doch schon Ende der sechziger Jahre schleicht sich beides wieder in seine Musik ein: Gegenstand und Perspektive. 1969 kehrt Feldman zurück zur präzisen Notation von Tonhöhe, Tondauer und Metrum und verwendet ein Jahr später in seinem Zyklus "The Viola in My Life" erstmals wieder Dynamikzeichen in Form von Crescendo und Decrescendo-Pfeilen. Feldmans Anspruch hat sich gewandelt. Das kompromißlose Streben nach reiner Oberfläche weicht der Erkenntnis, dass seine Musik ihren eigentlichen Platz "zwischen den Kategorien" findet, "zwischen Zeit und Raum, zwischen Malerei und Musik, zwischen der Konstruktion von Musik und ihrer Oberfläche."
"The Viola in My Life 3" ist das kleinste und kleinstbesetzte Stück des vierteiligen Zyklus. Es ist ein sparsames und zugleich ein etwas nervöses Stück. Feldman untersucht sehr vorsichtig das neue Land, das er betreten will. Nicht gleich wagt daher die Viola, aus dem ununterschiedenen "Extremly quiet" herauszutreten. Nach mehreren Ansätzen schraubt sich dann plötzlich eine kleine Achtel-Skala in die Höhe. Damit ist ein Anfang gemacht. Alle folgenden Crescendi leiten sich ab aus der natürlichen Bewegung dieser aufsteigenden Tonfolge. Auf Feldmans vormals flacher Klangleinwand hinterlassen sie deutliche Eindrücke.
Program notes for a concert with Michael Gielen and the SWF-Sinfonieorchester in the Cologne Philharmonie, December 20, 1997.
Die frühen siebziger Jahre sind für Feldman kompositorisch besonders produktiv. Vor allem das DAAD-Stipendium, mit dessen Unterstützung er ein Jahr lang in Berlin leben und von äußeren Zwängen weitgehend ungestört arbeiten kann, trägt reiche Früchte: Zwischen September 1971 und Oktober 1972 entstehen etliche zum Teil recht umfangreiche Kompositionen. Feldman im Rückblick: "Jetzt weiß ich den Grund für all diese deutschen Meisterwerke: Das Leben in Deutschland ist so langweilig. Man muß einfach Meisterwerke schreiben, um sich selbst zu unterhalten."
Neben "Cello and Orchestra" und einigen Kammermusikwerken widmet sich Feldman in dieser Zeit eingehend der Kombination von instrumentalen und vokalen Klängen. In den sachlichen, bloß die Besetzung beschreibenden Titeln, die seine Stücke nunmehr tragen, dokumentiert sich diese Arbeit: zunächst in "Chorus and Orchestra 1", es folgen zwei "Pianos and Voices" überschriebene Werke, "Voices and Instruments", Chorus and Orchestra 2" und schließlich "Voice and Instruments". Im Vergleich zu den Kompositionen der sechziger Jahre sind diese Werke verhältnismäßig klar strukturiert. Ist Feldman vorab noch daran interessiert, die Konstruktion in einer diffusen Klangoberfläche verschwinden zu lassen, so gilt seine Aufmerksamkeit nunmehr der Sorge, Konstruktion und klangliche Oberfläche so zu verschmelzen, daß sie ununterscheidbar werden. Deutlich erkennbar sind in "Chorus and Orchestra 2" zwei weitgehend identische Abschnitte, die den gesamten Verlauf dominieren: der erste beginnt etwa im zweiten Drittel mit einer Auffächerung des Chors in einen sechszehnstimmigen Doppelchor, dessen je achtstimmige Akkorde sich zum Teil überlagern, zum Teil aber auch responsorial abwechseln. Es folgt eine Episode, in der der nunmehr zwölfstimmige Chor Klänge jeweils von unten und oben stufenweise auf- und abbaut, danach folgt wieder der sechszehnstimmige Wechselgesang. Während frühere Kompositionen die Illusion einer statischen Klangleinwand erzeugen (in Anlehnung an die "All-Over"-Gemälde der New York School), entscheidet sich "Chorus and Orchestra 2" für eine nachvollziehbare Chronologie klanglicher Ereignisse, für den zwanglosen Wandel des Auges/Ohrs über eine Oberfläche. Dabei erreicht das Auge/Ohr gelegentlich Regionen, die es bereits genau zu kennen glaubt. Doch das ist eine Täuschung: schon das Verstreichen der Zeit verhindert Identität. "Wiederholung oder Rückkehr", so bemerkte der Musikforscher Herman Sabbe zu Feldmans Musik, "ist keine Wieder-Holung, sondern fortwährende Darstellungen einer Gegenwart, die zur Vergangenheit wird."
"Drei Trios" are program notes for a concert with the Ensemble SEM in Cologne, May 31, 1997.
Die sich aus der Verwendung von Patterns für Feldman ergebene kompositorische Freiheit vermittelt sich beispielhaft in dem programmatisch mit "Why Patterns?" überschriebenen Trio für Flöte, Klavier/Celesta und Glockenspiel: Obwohl in Partitur notiert, sind die drei Stimmen bis kurz vor Schluß nicht synchronisiert. Die so vorgegebene metrisch Unabhängigkeit wird in ihrer Wirkung verstärkt durch eine deutlich idiomatische Behandlung der einzelnen Instrumente sowohl hinsichtlich ihrer Registrierung und Artikulation als auch in der Gestaltung der Patterns - wobei "idiomatisch" nicht meint, daß eine Flöte wie eine Flöte klingen soll. Das Gegenteil ist der Fall: mit dem Verzicht auf experimentelle Spieltechniken und der Beachtung gleichsam "natürlicher" Spezifika eines Instruments sollen instrumentale Assoziationen überwunden werden.
Klangliche Einzelteile und Summe, Solostimmen und Trio stehen sich gleichberechtigt gegenüber. Keine Perspektive überdeckt die andere. In einer Art Coda wird schließlich die metrische und intervallische Individualität eingeschränkt, ohne daß klangliche dadurch gefährdet würde: Nach dreizehn Partiturseiten warten die Musiker aufeinander und spielen dann synchron die letzten Takte mit weitestgehend identischem Material. Die Annäherung führt nicht zur gegenseitigen Absorption.
Mit der ruhigen Ausbreitung der jeweiligen "natürlichen" Charakteristik der Instrumente lotet "Why Patterns?" erstmals den Klangraum dieser spezifischen instrumentalen Kombination aus. Am Ende steht, so erklärte Feldman, die Erfindung einer neuen "instrumentalen Form": "Keiner redet über instrumentalen Formen; Noten, darüber redet man. Aber so wie Haydn das Streichquartett erfand, erfand ich etwas für Flöte, Schlagzeug und Klavier."
Entgegen sonstiger Gewohnheit widmete Feldman der in "Why Patterns" observierten Instrumental-Kombination noch zwei weitere Werke: "Crippled Symmetry" und, unmittelbar im Anschluß, "For Philip Guston". 1986 folgt mit "For Christian Wolff" ein allerletztes Kapitel, quasi eine Sparversion nur für Flöte und Klavier/Celesta.
Auch wenn Feldman in einem Interview behauptete, "Crippled Symmetry" sei eigentlich nur eine späte, längere Version von "Why Patterns", so liegen wichtige Unterschiede nicht nur in der erweiterten Aufführungsdauer auf nunmehr rund anderthalb Stunden. Zunächst übernimmt Feldman von "Why Patterns?" neben der Instrumentation auch die grundsätzliche Anlage der Notation. Die Stimmen stehen in Partitur übereinander, verlaufen aber metrisch gänzlich unabhängig. Feldman gab später zu, mit Hilfe eines Taschenrechners den Verlauf im Groben so geregelt zu haben, daß sich die drei Einzelstimmen nie allzu weit voneinander entfernen. Trotz dieser metrischen Unabhängigkeit, die sich auch akustisch vermittelt, suggeriert das Partiturbild noch entschiedener als "Why Patterns" Synchronizität. Die für die späten Werke so charakteristische Bezugnahme auf das Notenblatt als optischen Rahmen wird hier augenscheinlich ad absurdum geführt: die übereinandergeordneten Stimmen vollziehen die meisten Übergänge der Patterns an optisch gleicher Stelle - am Ende eines Systems oder am Ende einer Seite. Auch ganze Pausentakte stehen oft akkurat angeordnet übereinander oder in hoketusartiger Versetzung. "Ich fand eine fast mathematische Gleichung", so erläuterte Feldman sein Vorgehen: "Je verrückter meine Notation, desto besser der Klang."
War schon "Crippled Symmetry" dreimal so lang wie sein Vorgänger "Why Patterns", so dehnt "For Philip Guston" den Zeitrahmen noch einmal auf ein Dreifaches, auf weit über vier Stunden. Feldmans längst legendäre Antwort auf diesbezügliche Nachfragen bedarf keiner weiteren Kommentierung: "Meine Stücke sind nicht zu lang. Wenn man sie anhört, scheinen sie sich in die Landschaft der Zeit einzufügen, die ich mitbringe. - Würden Sie sagen, daß die Odyssee zu lang ist?"
Der Asynchronismus der Stimmen ist nun auf kleine Abschnitte beschränkt, deren Anfang und Ende einen Synchronisationsrahmen vorgeben. Gegenüber seinen Vorläufern, vor allem gegenüber "Why Patterns", kennzeichnet "For Philip Guston" die größere Homogenisierung der Einzelstimmen in einen Trio-Verbund, ein höhere Konturschärfe des Materials, eine größere Prägnanz der Patterns und - verbunden damit - eine leichtere Faßlichkeit der kompositorischen Methodik. Wenige Parallelen innerhalb Feldmans Werkkatalog findet die zweiteilige Anlage: der zweiten Teil ist eine variierende Rekapitulation des ersten.
Feldman schrieb das Stück im Andenken an seinen "besten Freund in der Kunst", den amerikanischen Maler Philip Guston. Gustons Rückkehr zur Figuration um 1970 ließ die 20jährige Freundschaft mit einem Mal zerbrechen. Dennoch war es der ausdrückliche Wunsch Gustons kurz vor seinem Tod im Jahr 1980, daß Feldman - neben den Schriftstellern Philip Roth und Ross Feld - bei seiner Beerdigung das jüdische Totengebet Kaddisch sprechen sollte. Mit "For Philip Guston" erwiderte Feldman den freundschaftlichen Gruß.
Feldman traf Guston erstmals im Winter 1950/1951. John Cage hatte die beiden bekanntgemacht. Das Eingangsmotiv C-G-As-Es ist eine Reminiszenz an den Beginn ihrer Freundschaft.
Program notes for a concert with the Smith Quartet as part of the festival "Romanischer Sommer 1999" in Cologne.
Eine kleine Sekunde und eine große Sekunde hat Morton Feldman im Gepäck, als er sich 1982 auf die Reise macht zu seinem zweiten Streichquartett. Feldman weiß, daß es eine lange Reise werden wird. Je weniger Material er mitnimmt - das hat die bisherige Arbeit gelehrt - desto mehr Zeit braucht er. Warum das so ist, kann weder abstrakte noch musikalische Logik hinreichend klären. Es läßt sich aber hörend nachvollziehen: das Paradoxon ist dann keines mehr.
In der Feldman-Rezeption, die in den frühen achtziger Jahren nach langer Lethargie zu spätem Leben erwachte (die Aufführung des Zweiten Streichquartetts 1984 in Darmstadt hatte entscheidenden Anteil daran), werden solche und ähnliche Paradoxa gelegentlich zum Anlaß genommen, Topoi der Ästhetik mit solchen des Glaubens zu vermischen. Was sich der Ratio versperrt, soll in Demut hingenommen werden. Geraunt wird vom "Willen der Klänge", dem Feldman sich in beispielloser Selbstentäußerung unterworfen habe. Feldman, der Hörer - ein Neuauflage des antiken Sehers? Feldman selbst jedenfalls nimmt solche Gaben nicht für sich in Anspruch. Wenn er sich hier und da etwas überschwenglich über die enormen Qualität seiner Ohren ausläßt, dann vor allem, um anzumerken, wie sehr sie ihm beim Komponieren im Wege stehen können - eine wunderbare Analogie übrigens zu einer Bemerkung seines "best friend in art", dem Maler Philip Guston, der klagte, er habe einen "zu guten Geschmack".
Morton Feldmans zweites Streichquartett folgt weder dem Diktat der Logik noch dem des Ohres. Wenn es aber nicht entworfen und auch nicht erhört ist, so kann die Lösung der Frage, wie denn diese Musik sich überhaupt entfalte, nur lauten: sie entfaltet, oder besser, sie ereignet sich im jenem Spannungsfeld zwischen sinnlichem Erleben und rationalem Planen, in dem sich auch das menschliche Leben selbst ereignet. Als zutiefst humane Kunst ist sie weder eindeutig noch widerspruchsfrei. Gleichwohl erweisen sich ihre Widersprüche bei näherer Betrachtung eben eher als Widersprüche des Betrachters denn als solche der Sache selbst - auch das aber ist eine Erfahrung, die sich gleichermaßen im alltäglichen Leben machen läßt.
Genau genommen ist die Dialektik von Erleben und Planen, von der die Rede war, bei Feldman eine Tria-lektik. Ihre Pole sind: die Ohren, die Augen und der Verstand des Komponisten. Als Entscheidungsinstanzen kommt diesen Polen wechselndes Gewicht bei der Arbeit zu, sie wirken ineinander, sind nicht zu isolieren. Die Beurteilung eines Klangs als Klang, als physische Realität, obliegt dem Gehör. Entscheidungen, die primär vom Ohr getroffen werden, können rational nicht ausgewiesen werden. Wenn Feldman ein bestimmtes Klangmuster viermal wiederholt, weil er es genau so oft hören will, so muß das zunächst als subjektive Setzung hingenommen werden. Andererseits zeigt gerade das Beispiel des zweiten Streichquartetts, wie undogmatisch Feldman mit seinen vom Ohr abgeleiteten Entscheidungen umgeht. Als er für die Darmstädter Aufführung auf besondere Nachfrage das Werk um eine gute Stunde kürzt, streicht er vor allem in der zweiten Hälfte der Partitur zahllose Wiederholungsvorgaben - sicher nicht leichten Herzens, aber doch guten Gewissens. Das Quartett hält diese Striche mühelos aus.
Neben dem Ohr ist das Auge die zweite Entscheidungsinstanz im kompositorischen Prozeß. Damit sei auf solche Entscheidungen verwiesen, die sich auf die Notation und das Notenblatt selbst beziehen. So liegt über den 124 Seiten des Streichquartetts - wie über allen kammermusikalischen Werken der achtziger Jahre - ein gleichmäßiges Taktstrichgitter von neun identischen Takteinheiten pro Zeile (und drei Akkoladen pro Seite). Dieser visuelle Bezugsrahmen ist akustisch nicht wirklich relevant: gleich große optische Einheiten können musikalische Einheiten sehr unterschiedlicher Zeitdauer sein. Dennoch spielt er im kompositorischen Prozeß eine wesentliche Rolle. Selten nur bricht Feldman ein akustisches Muster optisch, indem er es über das Ende einer Zeile in eine andere führt, nie führt er ein Muster über das Ende einer Seite hinaus. Häufig wandelt sich mit dem Wechsel von einer Seite auf die nächste auch die Musik grundlegend. Wichtige Veränderungen führt Feldman außerdem oft erst zu Beginn einer Seite ein, und wie in allen späteren Werken füllt er noch die letzte Partiturseite bis zum letzten Taktmodul vollständig mit Noten. Wann das Stück zu Ende ist, darüber hat das Notenblatt, darüber haben die Augen eben auch ein Wort mitzureden. Ein anderer Aspekt "optischen" Komponierens sind notationelle Muster, im Zweiten Streichquartett z.B. kreuzförmig arrangierte Taktmaße: eine 5/8-Vorgabe wandert vom ersten Takt der ersten Stimme zum zweiten der zweiten usw., während gleichzeitig das Taktmaß der vierten Stimme peu à peu in die erste zieht. Da die übrigen Takte verschiedene Taktmaße haben, ist auch dieser Kreuzweg nur für das Auge, nicht aber für das Ohr als solcher relevant.
Die letzte Entscheidungsinstanz ist der Verstand, also die planende und - von sinnlichen Erscheinungen - abstraktionsfähige Rationalität des Komponisten. Sie betrifft kompositorische Strategien und Methoden, die, so nennt es Feldman selbst, helfen, ein Stück "in Gang zu halten" - wenn es sich ergibt, wie nun im zweiten Streichquartett, über mehrere Stunden hinweg. Die planerischen Strategien und Methoden, die Feldman entwirft und nutzt, sind nicht zu verwechseln mit Systematik. Während Systematik jedes Detail immer in bezug auf ein vorab fest umrissenes Ganzes behandelt, regeln Feldmans kompositorischen Methoden und Strategien die Arbeit - in Unkenntnis des Ganzen - nur für einen Augenblick oder für Abschnitte von überschaubarer Größe. Solche strategischen und methodischen Vorgehensweisen schlagen sich im Quartett auf vielfältige Weise nieder, etwa in der arithmetischen Struktur bestimmter Wiederholungsfolgen (z.B.: 6mal, 7mal, 8mal, 7mal, 6mal) oder Taktlängen (z.B. 4/16 bis 9/16 und zurück). Gelegentlich werden auch ganze Muster gespiegelt oder in proportionaler Verkürzung ihre Taktmaße wiederholt. Besonders verzwickt ist ein konstruktives Verwirrspiel in der Mitte des Werks, bei dem Feldman die neun variativen Muster eines System in den nächsten beiden Systemen der Seite neu ordnet, und dann diese Folgen variierter Variationen sieben Seiten (d.h. wohl eine Viertelstunde) später wieder aufgreift und auf den Kopf stellt: die Seite beginnt also mit dem ursprünglich dritten System, es folgt das zweite und dann das erste. Solche entfernte und bewußt verzerrte Wiederholungen sind typisch für die Werke dieser Zeit - sie dienen dem Ziel, das Erinnerungsvermögen zu verwirren. Während nun das eigentliche verfahrentechnische Thema dieser Musik die Material-Variation, also die Veränderung ist, so wird der nötige Versuch des Hörers, diese Veränderungen zu verfolgen, dadurch sabotiert, das Feldman die Grenze zwischen Wiederholung und Veränderung mitunter sehr sorgfältig verwischt und man sich selten nur sicher sein kann, ob das, was einem gerade so bekannt vorkommt, tatsächlich so schon einmal dagewesen ist oder bloß etwas Dagewesenem ähnelt.
Das Gewicht, das den drei Instanzen "Ohr", "Auge", und "Verstand" bei einzelnen Entscheidungen beigemessen wird, ist nicht fixiert, es wird ständig neu bestimmt. Das dynamische Kräftefeld der Sinne und der Rationalität hält die Arbeit in der Schwebe zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Material- und Selbsterfahrung, dem eigentlichen Ort von Feldmans Musik. Dabei liegt auf der Hand, daß die erläuterte "Entscheidungstrias" den Verlauf eines Werks zwar mitbestimmt, aber nicht determiniert. Daß Feldman sogar im strengen Cage'schen Sinne experimentiert, weil er etwas tut, von dem er nicht wußte, wohin es führen würde, zeigt auch der geheimnisvolle Gang, den das zweite Streichquartett nimmt. Feldman selbst allerdings merkte nach Beendigung der Partitur an, das Werk sei ein wenig zu "konzeptionell", weil es sich an einer Idee orientiere - der Idee, eine materielle Ausgangskonstellation mit ihren beiden Hauptintervallen und den daraus resultierenden Ableitungsintervallen vollständig zu zersetzen. Dieser Prozeß ist im zweiten Streichquartett in der Tat als gerichteter Prozeß offensichtlich und scheint damit der Idee des Experiments zunächst zu widersprechen. Er führt schließlich dazu, daß das Quartett "an Altersschwäche" (Feldman) stirbt. Auch Feldmans bewährter Trick, kurz vor dem Ende das Werk noch einmal mit frischen Material zu füttern, ist bloß eine Verschleierung dessen, was unausweichlich ist.
Doch die Idee der graduellen Zersetzung, so darf man Feldmans eigenen Einwand einschränken, ist im zweiten Streichquartett nur eine sehr vage Vorgabe, ist eher ein Richtungs-, als ein konkreter Zielhinweis. Denn was übrig bleibt, ist in seiner Gestalt das Resultat eines letztlich unabsehbaren kompositorischen Prozesses, nicht einer Idee. Wie wenig die konkrete Prozessualität des Werks mit abstrakter Konzeptualität und ihrer systematischen Umsetzung verwechselt werden darf, die ein Ganzes entwirft und kontrolliert, zeigt auch, daß sich Feldman, als er die Partitur am 27.Januar 1983 beendet, nicht im Klaren über deren wahre Ausmaße ist: er schätzt ihre Länge zunächst auf "zwei, vielleicht zweieinhalb Stunden". Jedoch, was heißt das schon, eine oder zwei oder auch drei Stunden mehr oder weniger? "Meine Stücke sind nicht zu lang", verteidigte sich Feldman, darauf immer wieder angesprochen. "Würden Sie etwa behaupten, die Odyssee sei zu lang?"
Program notes for a concert with Michael Gielen and the SWF-Sinfonieorchester in the Cologne Philharmonie, December 20, 1997.
Komposition, so erklärt Morton Feldman, sei für ihn dasselbe wie Orchestrierung. Der in der westlichen Tradition üblich gewordenen Annahme, ein Ton setzte sich aus diversen Einzelelementen zusammen, aus einer Höhe, Länge, Intensität und Farbe, und der sich vor allem in der Nachkriegszeit daraus entwickelnde Konsequenz, diese einzelnen Parameter kompositorisch unabhängig voneinander zu behandeln, stellt Feldman eine gleichsam ganzheitliche Ästhetik gegenüber, in deren Mittelpunkt das Phänomen "Klang" als unantastbare Einheit steht. So wie ein Klang nicht einfach durch einen anderen ersetzt werden könne, argumentierte Feldman, so könne auch das Instrument, das ihn hervorbringe, nicht durch ein anderes ersetzt werden, ohne die musikalische Situation dadurch grundlegend zu verändern. Und in der Tat: stellen wir uns ein klangliches Parameter, etwa ein Tonhöhe, vor, so müssen wir automatisch in unserer Vorstellung alle anderen, etwa eine Lautstärke, gleich mitdenken.
Als die New Yorker Philharmoniker Mitte der achtziger Jahre ein rund zwanzigminütiges Orchesterwerk bei Feldman in Auftrag geben, steht das eigentliche Zentrum des Werkes bereits fest, nämlich der Klang dieses Orchesters in seiner traditionellen Besetzung. Feldman nutzt in seinem letzten Orchesterwerk so auch alle zu Verfügung stehenden Ressourcen bis hin zu den obligatorischen vier Hörnern, die er im übrigen, so witzelt er nachher nicht ohne Stolz, so in den Gesamtklang integrierte, daß man sie am Ende kaum noch wahrnehmen kann.
Anders als in den meisten späten Kompositionen verwendet Feldman als Ausgangsmaterial keine kleinen chromatischen Felder, sondern fast ausnahmslos alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter zur gleichen Zeit. Dieses lückenlose chromatische Feld wird dabei - in Analogie zur Klaviertastatur - in zwei Blöcke aufgeteilt, in einen "weißen" und einen "schwarzen", wobei diese Tonblöcke wiederum bestimmten Instrumentenblöcken zugewiesen sind.
Zwei äußere Überlegungen haben Feldman bei der Komposition geleitet: zum einen die Beobachtung von Jean Sibelius, daß sich ein Orchester von einem Klavier vor allem darin unterscheide, daß ein Orchester kein Pedal hat. "Coptic Light" nun suggeriert den Eindruck eines "Orchesterpedals", mit dessen Hilfe Klänge verschiedenartig nach- oder ausklingen und sich nahtlos mit ihrer eigenen Wiederholung oder mit anderen Klängen verbinden. Obwohl der Komposition in der zweiten Hälfte durch eine schrittweise Reduzierung des ursprünglichen 8/8-Metrums bis auf 7/16 eine gewisse Entwicklungsrichtung vorgegeben ist, zielt "Coptic Light" wie kaum ein anderes Werk Feldmans auf atmosphärische Einheitlichkeit. Diese Einheitlichkeit ist das Resultat des zweiten Kerngedankens, der, wie so oft bei Feldman, seinen Ausgang in einem visuellen Eindruck nimmt: Im Louvre stieß der leidenschaftliche Museumsgänger auf eine Sammlung antiker Textilien der Kopten, der arabischsprechenden Christen in Ägypten. Obwohl nur als Fragmente erhalten, vermittelten sie in seinen Augen doch die eigentümliche Atmosphäre einer ganzen Kultur. Was nun, so fragte Feldman, bestimmt die eigentümlich Atmosphäre der westlichen Musik? Im Hinblick auf sein eigenes Schaffen kann die Antwort nicht überraschen: es ist ihr instrumentales Bild, ihr instrumentaler Klang. Demnach verbirgt der Titel "Coptic Light" sehr bescheiden die Hoffnung, daß dieses Werk - ähnlich wie die antiken Textilfragmente - einen hellen Lichtstrahl von der Kultur aussendet, in der es entstanden ist: nicht als ein bloßes Werk für Orchester, sondern als ein Werk, das in seiner klanglichen Oberfläche die Essenz westlicher Orchestermusik an sich formuliert.
© 1997, 1999, 2000 Raoul Mörchen
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