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Gespräch zwischen
Morton Feldman und Walter Zimmermann

[Deutsch von Walter Zimmermann]

The following conversation was first published in Walter Zimmermann's book, Desert Plants. Conversations with 23 American Musicians (Vancouver: Aesthetic Research Center Publications, 1976) pp 1-20, and subsequently reprinted in, Morton Feldman Essays, Walter Zimmermann, editor (Kerpen: Beginner Press, 1985) pp 229-244.

* * *

Ihre Stücke erscheinen mir im gewissen Sinn sehr rätselhaft. Wenn man versucht, sie zu ergründen, gelingt einem das nicht. Man weiß wirklich nicht, wie MORTON FELDMAN komponiert.

Nun, ich weiß nicht, wie WALTER ZIMMERMANN lebt und wie er seine Zeit verbringt, und Sie sehen mir nicht wie ein rätselhafter junger Mann aus. Als ich anfing zu arbeiten, war das ein Fehler. Jetzt aber wird es zu einer Tugend. Haha, wenn ein Mann älter wird, erhalten seine Sünden einen gewissen Reiz.

Wenn man ein Stück schreibt, kann man nicht umhin zu bemerken, daß ein ihm zugrundeliegendes Prinzip mehr oder weniger latent vorhanden ist. Die Frage ist nun, in welchem Maße man sich dieses fundamentale Prinzip zu eigen macht. Außerdem ist dieses Prinzip in jedem Stück in einem unterschiedlichen Grade anwesend: manchmal kommt es einem auf halbem Wege entgegen. Manchmal ist es wie eine flüchtige Bekanntschaft, die einen wieder verläßt. Warum tut man es nicht? Das Stück schreit geradezu danach. Aber man tut es nicht. Und es ist beinahe so, als hätte man es schon realisiert. Ich bin mir also dieser Dinge bewußt.

Aber alles dies ist im gewissen Sinn kein kompositorisches Problem. Ich glaube, ich kann meine Stücke so schreiben, wie ich es tue. Und in den vergangenen sechs Jahren habe ich sehr lange Stücke geschrieben ... nur der Konzentration wegen. Meine Stücke besitzen zu einem bestimmten Grade einen Aufführungscharakter. Ich bin äußerst konzentriert, wenn ich arbeite. Tatsächlich habe ich Wege gefunden, um zu einem konzentrierten Zustand zu gelangen. Eins der wichtigsten Dinge dabei ist, daß ich zum Schreiben Tinte benutze. Wenn ich also zu arbeiten anfange und merke, daß mich Niedergeschriebenes nicht unmittelbar zufriedenstellt, dann wird mir irgendwie bewußt, daß ich nur angenommen hatte, ich sei konzentriert, in Wirklichkeit war ich es aber nicht. Das Schreiben mit Tinte ist für mich also ein Indikator dafür, wie konzentriert ich wirklich bin. Und dann mache ich weiter und schreibe das Stück, wobei ich wiederum die Tinte als Indikator benutze. Und wenn ich bemerke, daß ich durchstreiche oder was auch immer, dann lasse ich das Stück liegen und arbeite ein anderes Mal daran weiter. Für mich ist diese Konzentration also wichtiger als für einen anderen die Tonhöhen-Organisation oder die Einstellung zur Konzeption seines Stückes. Das ist ein ganz fundamentaler, umfassender Grundsatz.

Ich sehe in Ihren Stücken, daß jeder Akkord versucht, eine eigene Klangwelt zu etablieren, die sich vollständig von der des voraufgehenden Akkordes unterscheidet.

Ja, im Augenblick ist es so, daß ich einfach versuche, denselben Akkord zu wiederholen. Ich wiederhole denselben Akkord in Umkehrungen. Das macht mir sehr viel Spaß, die Umkehrungen in dem Sinne lebendig zu machen, daß sich gleichzeitig alles und nichts ändert - während ich früher wollte, daß sich meine Akkorde in bestimmter Weise sehr von den darauffolgenden unterschieden, um etwa das, was vorher geschehen war, im Gedächtnis des Hörers auszulöschen. Auf diese Weise setzte ich immer das Zeit-Element außer Kraft, indem ich die Bezüge, woher die Akkorde stammten, eliminierte. Jeder Augenblick war neu, und man stellte keine Beziehungen her. Und es treten auch eigenartige Phänomene auf, die man nicht unmittelbar analytisch erfassen kann.

Aber lassen Sie mich eine Reihe von Akkorden spielen, wobei es sich jeweils exakt um denselben Akkord handelt. Die Zeit gestalte ich dabei nicht nach Belieben oder aus dem Augenblick heraus. Die Zeit ist tatsächlich da; ich spiele genau das, was geschieht.

(Feldman geht hinüber zum Klavier und spielt leise einige Akkorde.)

Ich glaube, daß bei meiner Arbeit drei Elemente zusammenwirken: meine Ohren, mein Kopf und meine Finger. Ich glaube nicht, daß es allein das Ohr ist. Das würde bedeuten, daß ich lediglich improvisiere, oder das niederschreibe, was mir gefällt, bzw. was mir nicht gefällt. Aber diese drei Dinge sind an der Arbeit immer beteiligt. Nicht, daß ich ausschließlich am Klavier komponiere. Einer der Gründe, weshalb ich am Klavier arbeite, ist der, daß ich dadurch gezwungen werde, mein Arbeitstempo zu verlangsamen ... und außerdem kann man das Zeit-Element viel stärker hören ... die akustische Realität.

Man kann diese Zeitintervalle besonders dann nicht hören, wenn man mit größeren Klangkörpern als Orchestern arbeitet. Man kann die Pausen nicht hören. Wenn man sich einfach an einen Tisch setzt, wird das Resultat nicht gut. Man entwirft eine Art System entweder von asymmetrischen Beziehungen oder ein Zeit-System. Man gerät in etwas hinein, was wirklich nichts mit akustischer Realität zu tun hat. Und für mich ist akustische Realität sehr wesentlich. Für mich existiert so etwas wie kompositorische Realität nicht.

Und genau das ist es, was Sie vom europäischen Ansatz, Musik zu machen, unterscheidet. Sie haben einmal gesagt: "Jahrhundertelang waren wir Opfer der europäischen Zivilisation." Deshalb sehe ich diese Zusammenarbeit mit Cage und Wolff in den fünfziger Jahren als einen Schritt aus dieser Situation heraus.

Ja, ich glaube, eins der interessanten Dinge, in denen Christian Wolff, Earle Brown, John Cage und ich übereinstimmten - vermutlich hätte es auch andere Gemeinsamkeiten geben können - das war in einer bestimmten Woche, aber die Woche war wichtig ... das war die Tatsache, daß wir zuzuhören begannen, wir begannen zuzuhören ... zum erstenmal.

Jazz-Musiker arbeiten innerhalb von "Changes". Sie achten bewußt auf eine Art Veränderung, die in ein mehr Innovatives münden könnte. Aber sie arbeiten innerhalb der Grenzen gegebener Situationen; das war auch der Fall, als Ornette Coleman das Klavier wegließ, damit es nicht das harmonische Denken innerhalb des musikalischen Trips beeinflußte. Aber mein Argument inbezug auf die Musik der letzten Zeit lautet, daß ... ich bemerkte, ... nehmen wir z. B. den "beat" ... sogar als es vor sagen wir 25 Jahren hieß? "Befreien wir uns vom 'beat'", so atomisierte man ihn damals lediglich. Das bedeutet ... daß man dabei war, Wege zu finden, den durchgehenden Rhythmus zu eliminieren ... was wiederum bedeutete, daß man trotzdem noch mit dem "beat" arbeitete, nicht wahr? Und ich hatte das Gefühl, daß man den "beat" ignorieren müsse. Und das ist ein Grund, warum ein großer Teil meiner Musik zu dieser Zeit für viele Leute - Amerikaner wie Europäer - uninteressant war.

Aber haben Sie aufgrund Ihrer Hörerfahrung der letzten Jahre eine neue Art von Puls gefunden?

Ja. Eins der Probleme im Zusammenhang mit meiner Zufallsmusik war, daß sie zu konzeptbetont war.

Das paßt zu den Gemälden, die hier an der Wand hängen, von Rauschenberg und anderen.

Ja, nun, sie waren meine Freunde. Sie waren meine Freunde. Aber nicht nur das. Ein Konzept hat so etwas Abweisendes an sich, man kann schwer in sein Innerstes eindringen. In Ermangelung eines passenden Begriffs benutzt man also ein Sinnbild. Und dann kümmert man sich nicht mehr darum. Eines der großen Probleme bei meiner Arbeit war, daß bei der Aufführung einer Komposition die Interpreten daran in bestimmter Hinsicht nicht beteiligt waren. Sie richteten Ihre Aufmerksamkeit auf die Klänge, aber sie hörten nicht zu. Und sie achteten nicht auf die Pausen, die ich angebe. Deshalb ist der Grund, weshalb ich meine Musik ausnotiere, der, daß ich die Länge der Pausen nicht dem Belieben der Interpreten überlassen sondern sie festlegen will. Vom Höreindruck her merkt man gar nicht, wie rhythmisch kompliziert das auf dem Papier ist. Es fließt. Auf dem Papier sieht es wie Rhythmus aus, es ist aber keiner. Tatsächlich nimmt man lediglich die Dauer der Ereignisse wahr.

Sie haben gerade eine bestimmte Woche vor zwanzig Jahren erwähnt, in der Cage, Wolff, Brown und Sie gewisse gemeinsame Erfahrungen gemacht haben. Auch Wolff sprach von einer bestimmten Art der Erinnerung an diese Zeit, die man rückblickend als "Garten Eden" bezeichnen könne.

Ja ... Sehen Sie, den Unterschied zwischen Amerika und Europa im Hinblick auf den Garten Eden könnte man am besten mit Voltaire erläutern. Sagen wir, Voltaire sei Europa. Niemanden kann man mehr mit Europa identifizieren als gerade Voltaire. Und nehmen wir ein Buch wie Candide. In Candide ist die Rede von drei Gärten. Die ersten beiden sind Orte der Erhabenheit, erfüllt von hohen sittlichen Ansprüchen und Idealen. Im ersten entdeckt Candide, der Held, wie es ist, wenn man die Frau eines anderen liebt. Und er wird aus diesem Garten hinausgeworfen. Danach finden wir ihn in Eldorado - ebenfalls ein Teil des Garten Eden. Auch diesen muß er verlassen. Und am Ende befindet er sich in einem kleinen Garten außerhalb von Konstantinopel zusammen mit dem Abfall der Gesellschaft. Sehen Sie? Die Europäer verändern sich, weil sie aus dem Garten Eden hinausgeworfen werden. Es kommen Seuchen, plötzliche Umwälzungen, neue Kulturen entstehen, und sie werden gezwungen, alte Positionen - Tonalität und Atonalität - aufzugeben.

Nun, die Amerikaner verlassen den Garten Eden, d.h. aus eigenem Entschluß. Ich bin vielleicht in meinem Denken etwas zu esoterisch, aber ich meine, daß die Amerikaner die Fähigkeit haben, alte Positionen rechtzeitig zu verlassen, bevor sie durch äußere Umstände dazu gezwungen werden.

Zunächst einmal gibt es einen größeren Freiraum.

Es gibt kulturellen Freiraum, es gibt künstlerischen Freiraum.

Und außerdem gibt es nicht dieses Gefühl, in eine Kultur eingebettet zu sein.

Ohhh, unsere Kultur - ich weiß nicht, in welchem Ausmaß wir keine Kultur haben sollten.

Das habe ich nicht gesagt.

Nein. Zum Beispiel ... haben wir sehr schöne Möglichkeiten gefunden, Kultur zu ersetzen. Die Malerei des 19. Jahrhunderts ist in diesem Zusammenhang übrigens sehr interessant. Damals gab es so etwas wie eine Kultur nicht. Es spielte keine Rolle, wie gut ein Maler war, letzten Endes blieb er ein Amateur.

Aber genau das ist doch der Vorteil.

Nein, es war in Wirklichkeit kein Vorteil. In der amerikanischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts war das kein Vorteil. Ich will Ihnen das ein wenig erläutern; denn das ist ein Gebiet, über das die meisten Europäer nichts wissen, also über die amerikanische Malerei im 19. Jahrhundert und besonders früher. Es spielte also keine Rolle, wie gut ein Maler war, letzten Endes blieb er ein Amateur. Und in diesem Sinne waren wir immer noch ein Teil von England: der junge Amerikaner, der anglophile Amerikaner ging in der Regel nach drüben und studierte in London. Hier malte er lediglich Portraits. Und dann kommt er nach London und sieht ... nun, es ist dasselbe, als wenn ich zum erstenmal nach Europa kommen würde; ich male Portraits und ich bemerke, daß keine ausreichenden Informationen vorhanden sind, darüber nämlich, daß in England der zu Portraitierende in einer Gartenlandschaft abgebildet wird. D.h. daß man als Maler die Themen Natur und den zu Portraitierenden oder seine Familie behandeln muß, nicht wahr?

Und was den meisten frühen amerikanischen Malern passierte, ist, daß sie nicht nur immer mehr Informationen zur Verfügung hatten, sondern daß sie außerdem mit einem bedeutungsvollen Gegenstand umgehen mußten. Sie begannen, großartige Dinge zu malen. Wichtige englische Maler sagten ihnen, man müsse nach Gegenständen suchen, die außerhalb von einem selbst lägen; denn sonst wiederhole man sich. Und so weiter und so weiter. Und dann, etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sie noch immer keinen Gegenstand gefunden. Sie hatten keine Geschichte, und sie entdeckten etwas anderes: sie entdeckten etwas, was Europa in bestimmter Hinsicht wirklich nicht entdeckt hat. Sie entdeckten die Landschaftsmalerei. Deshalb kann man also sagen, daß in der amerikanischen Malerei des 19. Jahrhunderts Landschaft zum Thema von Malerei wurde. Ich spreche davon, daß eine Landschaft als Ganzes zu einer Art ästhetischem und philosophischem Prärogativ wurde. Sie entdeckten etwas, was jemand eine Art "pantheistischen Idealismus" genannt hat, wo Natur zum Ideal wird, nicht aber zu einem Gegenstand von Kunst. Aber es wurde ein wenig ... in gewissem Sinn wurde es ... vielleicht kann man es nicht direkt mit Courbet vergleichen, aber philosophisch war es ein wenig interessanter. Es war noch ein Kunstwerk, aber es war etwas mehr. Dazu kam die Einbeziehung des metaphysischen Aspekts von Natur. Nur dieser metaphysische Naturaspekt begann wiederum, meine ich, die Literatur zu beeinflussen - Hawthorne, Melville - hier wird überall eine eigenartige Beziehung zur Natur deutlich.

Und ich glaube, man kann diese Situation sehr gut auf die Musik der fünfziger Jahre übertragen. D.h. dieser pantheistische Idealismus; wenn man "Natur" durch "Klänge" ersetzt und wenn man die Sache von der Seite der philosophischen Wahrheit her betrachtet. Aber Cage und ich sind in einer glücklicheren Lage als die Maler im 19. Jahrhundert; denn wir wissen genausoviel wie die Europäer, und wir sind ebenso klug und gescheit wie sie ... in dieser Hinsicht haben wir die gleiche Ausgangsposition. Und sehen Sie, deshalb besitzt unsere Arbeit ein ungeheuer starkes Element des Überlebens. Darüber gibt es gar keine Frage. Wenn wir unsere Musik zum Beispiel wie die von Ives geschrieben hätten, dann hätten wir, meine ich, keine Überlebenschance gehabt. Eine solche Musik wäre zu literarische. Eins meiner Probleme im Zusammenhang mit dem Werk von Ives ist, daß es einfach zu literarisch ist. Es ist zu pragmatisch, es ist wie ein objektiver Mahler. Wo Mahler subjektiv ist, ist Ives genau in dem Sinne objektiv, und doch ist es literarisch. Aber auch diese Art von Objektivität hat mit der Tatsache zu tun, daß ein Individuum in dieser Art von pantheistischem Idealismus aufgeht. Mit anderen Worten ...

Ja, weil es für Ives nie wichtig war, einfach Musik zu schreiben. Er wollte im Grunde mit seiner Musik gedankliche Vorstellungen transportzeren.

Richtig. Aber für mich ist das in Wirklichkeit kein musikalischer Gedanke, wissen Sie. Ich meine, Cage und ich unterscheiden uns von Ives in der Weise, daß wir Musik schreiben. Tatsächlich ist eins der interessantesten Dinge vielleicht, daß wir zu dieser Zeit die einzigen waren, die Musik geschrieben haben.

Weil Sie nichts benutzten, das transportiert wurde durch historische ...

Nun, das ist richtig ... zum Beispiel wird Cage's Beziehung zu Duchamp vollständig mißverstanden. Sie sind in gewissem Sinn das genaue Gegenteil voneinander. Ich habe das Cage gegenüber erwähnt - ich meine gesprächsweise. Und er hat nichts gesagt, er hörte nur zu. Sie sind Gegensätze. So interessieren sich zum Beispiel so viele junge Leute deshalb sehr für Duchamp, weil er das Kunst-Erlebnis aus dem Auge, aus der Netzhaut heraus in den Kopf verlegte; d.h. es war nicht mehr sinnlich erfahrbar sondern wurde verstandesmäßig reflektiert. Cage ging von diesem konzeptbestimmten, formalen Aspekt der Musikerfahrung ab und komponierte seine Musik als sinnlich erfahrbare. Das ist ein entscheidender Unterschied, nicht wahr? Nach allem, was ich weiß, war der größte Duchamp der Musik Beethoven.

Das mit Ives, das finde ich auch richtig. Er transportiert gedankliche Vorstellungen innerhalb historisch und musikalisch akzeptierter Strukturen.

Nun, das war eine historische Periode. Wir wollen ihm nicht vorwerfen, daß er in diese Zeit hineingeboren wurde. Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, aber, was er nicht war ... Aber in welchem Maße er ohne seine literarischen Bezüge existiert hätte, ist sehr schwer festzustellen.

Aber er wirkte doch - und ich finde das tut er immer noch - als Pionier einer bestimmten Form der Lebenspraxis, bzw. dafür, für diese allgemeingültige Grundsätze zu finden, die auch das Leben in einer kulturellen Wüste möglich machen sollten. Und das ist doch ein bezeichnender Vorteil in Amerika, wenn man sich künstlerisch betätigt.

Nun, wir sind sicher erfolgreicher als Hauer, der Wiener Zwölfton-Architekt. Aber ich finde, in Amerika gibt es einen Unterschied. Und Amerika ist in bestimmter Hinsicht ... Ich finde, die Bezüge sind versteckter.

Etwas anderes, was mir gefällt, oder was ich hier bei einzelnen Amerikanern feststelle, ist die Tendenz, eine Lebensform im Sinne von Rousseau zu entwickeln.

Ich glaube, das stimmt nicht. Wir sind keine Primitiven.

Ich weiß nicht, ob das das Einzige ist, was Rousseau kennzeichnet.

Ich finde, Rousseau ist ein sehr gefährlicher, ein sehr gefährlicher ... es gibt nur einen Rousseau.

Und dann gibt es noch Thoreau, auf den man sich jetzt mehr und mehr bezieht.

Nun, Cage tut das ...

Aber ich sehe Ihre Musik als eine Form der autonomen Existenz, die man mit Thoreau in Beziehung setzen kann.

Ich glaube, das hat unter anderem mit dem Problem der Identität zu tun. Entweder ich habe keine Identität als Komponist - wodurch ich veranlaßt werde, das zu tun, was ich tue - oder ich besitze Identität in so hohem Maße, daß ich mich öffnen könnte und mich um das Problem meiner Identität nicht zu kümmern brauchte. Und ich glaube, das letztere ist der Fall. Ich habe das Gefühl, daß ich als Person eine Menge Identität besitze. Und aus diesem Grund frage ich mich auch nicht: "Ist das Musik?" Jahrelang habe ich mir nicht einmal die Frage gestellt: "Wie könnte ich Komponist sein und trotzdem nicht das Leben eines Berufsmusikers führen." Aber ich weiß, die Amerikaner, die ich kenne - sogar aus anderen Generationen als meiner - haben Komponieren nie als Beruf verstanden. Die Amateure von gestern werden zu den Berufsmusikern von heute; die Berufsmusiker von gestern werden die Amateure von heute. Ich war immer der Uberzeugung, daß die Europäer diese Art der Identität brauchten, um zu überleben. Und daß sie infolgedessen den geschichtlichen Prozessen Tribut zu zollen hätten.

Und natürlich erzeugt eine solche Einstellung sehr lustige und gleichzeitig sehr tragische Haltungen. Zum Beispiel Carl Ruggles, er komponierte einfach nicht genug. Er malte vierzig Jahre nur Aquarelle ...

Aber, um zurückzukommen, auf das, was ich Sie am Anfang gefragt habe, als Sie ins Haus kamen - warum sind Cage, Wolff und ich in dieser Reihe von Gesprächen vertreten, die Sie führen wollen. Die meisten Leute, die Sie erwähnen, haben völlig unterschiedliche Interessen. Wo sehen Sie da die Gemeinsamkeiten?

Zunächst einmal ist es mir egal, ob Sie aus einer anderen Generation kommen. Wichtig ist doch, daß Ihre Musik noch immer interessant ist. Und alle diese Leute, die ich besuchen werde, zeigen doch durch ihre Arbeit, was es bedeutet, ein wirklich amerikanischer Komponist zu sein, der unabhängig ist sowohl vom europäischen historischen Denken als auch von einem gewissen amerikanischen kommerziellen Denken. Und durch die gegenwärtige Situation veranlaßt werden diese Leute herausgefordert, grundlegende Formen des Musikmachens neu zu überdenken. Und das möchte ich genauer untersuchen. Auf der anderen Seite stelle ich Sie an den Anfang, weil Sie für mich die "rückschauende Perspektive eines erfahrenen Mannes" repräsentieren.

Ha "die rückschauende Perspektive eines erfahrenen Mannes", das klingt wie der Titel zu ... die rückschauende Perspektive eines erfahrenen Mannes. Nun, auf wen oder was soll ich denn zurückschauen?

Wenn Sie zum Beispiel besonders die frühen fünfziger Jahre vergleichen, als Sie mit Cage zusammenwaren und so weiter, und wie Sie die heutige Situation sehen. Und wie sich die Musik Ihrer Meinung nach in Zukunft entwickeln wird.

... ich glaube, daß die Lehre, die zumindest Cage und ich ... nun wir wollen auch Cage hier beiseitelassen, wie könnte ich für Cage sprechen ... Ich glaube, daß - wenn man einmal von den Implikationen meiner eigenen Musik absieht - ich versucht habe, anderen Komponisten zu sagen, daß sie absolut sie selbst sein können. Und ich habe das Gefühl, daß diese Botschaft, die ich ihnen gegeben habe, ihren Zweck nicht erfüllt hat.

Wie kommt das?

Nun, ich habe in dieser Hinsicht ein gewisses Gefühl des Versagens ... Was ich unter anderem an der jüngeren Generation beklage ... ist, daß - für mich wenigstens - Klang das entscheidende Element war, und das ist auch heute noch so. Ich glaube, daß ich mich als Person dem Klang unterordne. Ich glaube, daß ich meinen Klängen zuhöre, und ich lasse mich dann von ihnen lenken; ich schreibe meinen Klängen nicht vor, wie sie zu wirken haben. Denn ich verdanke diesen Klängen mein Leben. klar? Sie haben mir zu einem Leben verholfen. Und ich glaube, daß die jungen Leute ... anstatt den Klang als das entscheidende Element zu betrachten, bekommt man eher den Eindruck, daß sie selbst das Wichtigste sind. Und ich sehe bei ihnen, daß sie die Aufmerksamkeit ... bei ihrer Arbeit auf sich selbst, auf ihre Vorstellungen ziehen, ob diese nun politisch oder apolitisch sind.

Mit anderen Worten, ich wollte ihnen die Freiheit geben, esoterisch zu sein. Aber diese Haltung wird offensichtlich nicht als Vorzug und Tugend betrachtet; ich bin mir in dieser Sache nicht ganz sicher. Und einer der Gründe, warum ich da nicht ganz klar sehe, ist der, weil ich keine Namen erwähne. Ich will keine Namen nennen. Was ich gesagt habe, ist eigentlich auch keine Kritik, die Dinge sind nun einmal so. Und es sind alles großartige Menschen.

... Ich halte diese ganze Idee für ein wenig zu problematisch; in einem der Manifeste hieß es zum Beispiel: wenn die Klänge frei sind, sind die Menschen frei. Wie wenn die Klänge und die Menschen gemeinsam sich an den Händen fassen und vereint mit der Gesellschaft einen Kreis um die Klänge bilden.

Dieses Kunstverständnis funktioniert ja im Grunde nicht mehr. Dringender ist es heute, darüber nachzudenken, wie man die Menschen befreien kann, die befreit werden müßten und nicht die, die bereits frei sind.

... Gegenüber der Gesellschaft eine militante Haltung einnehmen heißt, sich mit diesem Aspekt von Gesellschaft zu beschäftigen, man beschäftigt sich nicht mit dem Leben. Sich militant gegenüber dem Leben verhalten, das gibt einem mehr Rätsel auf. Dazu braucht man seinen Kopf. Ich habe gegenüber Klängen eine militante Haltung eingenommen. Ich wollte Klänge als Metaphern gestalten, damit sie so frei sein können wie ein Mensch es sein könnte. Das war meine Vorstellung von Klang, sie hat sich auch nicht verändert; Klänge sollten atmen ... sie sollten nicht für eine bestimmte Idee benutzt werden. Ich glaube, daß Musik überhaupt nicht in Abhängigkeit einer bestimmten außermusikalischen Idee gedacht sein sollte ... wesentlich ist, daß Musik eine Art Lebenskraft ist, die in einem gewissen Grade wirklich das Leben ändert ... vorausgesetzt, man läßt sich wirklich auf die mit dieser Haltung zusammenhängenden Probleme ein.

Ich weiß nicht, was ein Komponist ist. Ich wußte es als junger Mann nicht, ich weiß es jetzt nicht, und im nächsten Monat, in zwei Monaten werde ich fünfzig Jahre alt.

Und ich meine, besonders wichtig ist die Sache mit der Kontrolle. Die Gesellschaft soll kontrolliert werden, die Kunst soll kontrolliert werden. Man will Kontrolle, Kontrolle und nochmals Kontrolle. Nun, auch wenn man einräumt, daß Kontrolle einem guten Zweck dient, so bleibt es letzten Endes doch Kontrolle ... Wenn man sich mit dem Problem der Gesellschaft beschäftigt, bemerkt man ein großes Dilemma, daß Camus sehr schön beschrieben hat; er sagt, wenn ein Mensch frei sein wolle, so geschehe dies auf Kosten von anderen Menschen. Mit anderen Worten: die Freiheit eines Menschen bedingt die Einschränkung der Freiheit eines anderen. Verstehen Sie? Und mit der Musik - finde ich - ist es genauso: wenn man mit einer idealistischen Auffassung an sie herangeht und ihr gedankliche Vorstellungen aufzwingen will, so geschieht dies auf Kosten der Musik. Wenn man Musik als Werkzeug benutzt, so entsteht daraus Polemik.

Und meinen Sie, daß in irgendeiner Gesellschaftsform dieses Verständnis - was Musik sein sollte - leichter zu ertragen wäre?

Um zu verstehen, was Musik sein muß, muß man für die Musik leben. Wer ist denn dazu schon bereit?

Aber neben der Tatsache, daß man sich der Musik widmet, um sie zu einem Ort der Reinheit und Unberührtheit zu machen, ist doch wichtig, den Punkt zu erreichen, um sich dies überhaupt leisten zu können.

Ja, aber man muß zwischen sozialen Realitäten und sozialen Ängsten unterscheiden. Meiner Ansicht nach entkommen wir sozialen Ängsten nie. Ich meine, wenn man glaubt New York sei schlecht, so sollte man nach Kalkutta gehen!

Ich bin der Auffassung, man sollte die Musik in Ruhe lassen, und die Menschen sollten sie nicht als Werkzeug ihrer Ideen benutzen ... Propaganda damit machen, Meisterwerke anfertigen; sie sollten sie nicht dazu zwingen, in Wolkenkratzern zu leben oder in Lehmhütten ... Eine Person sollte eher in einer engen Beziehung zu der sie umgebenden Klangwelt leben. Und in Wirklichkeit ist es so, daß ich manipuliert werde. Ich hasse Manipulation. Jedesmal wenn ich versuche, meine Arbeit im Sinne einer für mich großartigen Idee zu manipulieren, gerät sie ins Stocken. Nachdem ich nun so viele Jahre lang arbeite, ist es mir nicht einmal erlaubt, zu manipulieren. Ich weiß, daß meine Musik sonst sofort um "HILFE" schreien würde.

In diesem Sinne hat meine Arbeit seine sehr philosophische Orientierung.

Auf welche Weise wird dadurch das Denken der jungen Generation beeinflußt?

Ich glaube, es wird überhaupt nicht davon beeinflußt ... Ich meine, die neue Musik wird heute dazu benutzt, die Aufmerksamkeit auf diese Personen und ihre Ideen zu lenken ...

Der Klang ist vielleicht tot. Möglicherweise hat Klang nur in den fünfziger und sechziger Jahren etwas bedeutet. Wahrscheinlich nahm seine Bedeutung im Laufe der Zeit einfach ab, oder er wird mit mir oder mit Cage bedeutungslos. Auf jeden Fall war diese ganze Periode eine herrliche Zeit. Zum erstenmal in der Geschichte war der Klang frei. Aber wie die meisten Menschen wollen die jungen Leute keine Freiheit.

Sie können nicht damit umgehen. Mit Cage wurde Freiheit zu einem Freibrief, und sie konnten sich wie Idioten benehmen.

Bei mir wurde Freiheit als Geschmack mißverstanden als elitärer Ansatz ... Was ich sagen möchte, ist, daß ich mich von jeder Person, die Sie interviewen wollen, sehr isoliert fühle. Ich empfinde da überhaupt keine Beziehung. Und mit ihnen auf eine Ebene gestellt zu werden, das wäre so, als wenn Sie mir eine Photographie bringen würden und sagen: "Erkennen Sie sie? Das ist Ihre Tochter." ... Und ich würde antworten: "Nun, sie sieht zwar aus wie meine Tochter, sie ist es aber nicht." Und einige von ihnen arbeiten so eng zusammen, wissen Sie? Ich glaube aber, daran gibt es nichts auszusetzen. Es existiert da eine Art gesellschaftliches Bedürfnis.

Vielleicht haben Sie von allen die größte Geduld.

Außerdem sind einige von ihnen sehr ehrgeizig. Wenn es überall heißt, jeder liebt den anderen, jedermann ist nett zum anderen, dann kommt man darum natürlich nicht herum. Gleichzeitig jedoch halte ich dies für einen Zug hochgradiger Karrieresucht. Als ich jung war, mochte niemand den anderen. Niemand hatte den anderen besonders gern, und Karrieren ergaben sich einfach. Sogar im Falle Stockhausens war das so. Versteh? Er war ein junger Mann mit fantastischer Energie, mit einer fantastischen intellektuellen Neugier. Er war nicht arrogant. Er hat sich selbst nicht für einen besonderen Menschen gehalten. Er wird sich aber immer mehr zu einem Helden entwickeln; man wird ja nicht als Held geboren. Ich glaube, der wesentliche Unterschied ist ... daß alle warteten.

Und Sie sind das perfekte Beispiel für jemanden, der sich die Jahre hindurch treu geblieben ist. Aber die Zeiten ändern sich doch.

Hören Sie! Das ist ein großes Problem. Ganz offensichtlich ist es so, daß die Zeiten sich ändern. Ich habe mit dem Gedanken gelebt, daß mein ganzes Leben ein Irrtum sein könnte. Aber jemand, der ein Stück über Attica schreibt, für den ist das Leben möglicherweise - meine ich - kein Irrtum ...

Ich glaube, daß die jungen Leute - und das bezieht sich auch auf den gesamten gesellschaftlichen Wandel - daß die jungen Leute einfach nicht konkurrieren wollen. Das ist heute ein großer Mangel unter den jungen Leuten allgemein.

Weil sie gesehen haben, wohin Konkurrenz führt.

Ich meine das nicht in dem Sinne, daß ich mich als Konkurrent fühlte oder fühle. Aber wenn man um sich herum sehr starke Stimmen vernimmt. Man befindet sich auf einer anderen Bewußtseinsebene. Ich mußte in mir selber einen gewissen kreativen Druck und ein gewisses Maß an Konzentration erzeugen. Aber bei mir verläuft die Arbeit eben nicht so, daß mir plötzlich wie aus heiterem Himmel die Ideen eingegeben werden. Das Wort Konkurrenz trifft nicht zu. Aber ich bin vielleicht einer der letzten Überlebenden in einer Art Kunst-Arena. Und ich meine, für das, was die jungen Leute tun, trifft der Ausdruck Arena nicht zu ...

Sehen Sie, das kommt von innen. Sie denken über die Gesellschaft nach, weil sie von der Gesellschaft gelenkt werden. Und die Gesellschaft liefert ihnen die Stichworte für ihre Verhalten. Wenn die Gesellschaft sagt: "Hier muß etwas geändert werden!", dann können sie diesen Hinweis zur Veränderung nicht ignorieren. Ich meine, das große Problem besteht darin, daß die jungen Leute von der Gesellschaft hingeopfert und manipuliert wurden. Und ihr gesamtes Denken spiegelt ja im Grunde die gesellschaftlichen Zustände wider, die sie eigentlich verändern wollen.

Sie konkurrieren also nicht im Bereich Kunst, sie konkurrieren im gesellschaftlichen Bereich und innerhalb des gesellschaftlichen Wertsystems. Erinnern Sie sich, die Gesellschaft ändert sich. Es mit der Kunst aufnehmen, heißt, es mit dem Leben aufnehmen. Das ist eine Kraft, die einfach zu stark und zu mächtig ist. Verstehen Sie? Es ist, wie wenn man in einen Vulkan springt.

Leute, die sich auf so etwas einlassen, müssen sich also aus der Gesellschaft zurückziehen.

Nein! Ich ziehe mich niemals aus der Gesellschaft zurück. Diese Leute müssen sich auf sich selbst verlassen. Sie benötigen eine innere Stärke ... um gleichzeitig im Leben, in der Gesellschaft und in der Kunst bestehen zu können. Es ist eine Flucht. Das ist mein Problem. "Das ist die Frage". Es ist eine Flucht.

Das große Problem ist, daß wir zwischen Kultur und Kunst zu unterscheiden haben. Kunst wird nur von wenigen Leuten ausgeübt. Kultur hat einen eher öffentlichen Charakter. Verleger, Studenten, Lehrer: das ist Kultur. Bestandteil der Kultur - nicht der Kunst - bin ich aus freiem Entschluß. Und ich glaube, daß die jungen Leute sich mehr an der Kultur - die wiederum Teil der Gesellschaft ist - orientieren als an anderen Dingen. Denn im Bereich der Kultur muß man in einem illusionären Zustand der Gewißheit leben. Verstehen Sie?

Ich zum Beispiel befinde mich in der Zwangslage, daß ein vierundzwanzig Jahre alter Student annehmen soll, er könne begreifen, was ich tue. Das grenzt schon fast an Wahnsinn. Dazu müßte er eigentlich mein Ebenbild sein, er müßte mit mir fühlen. Kultur bedeutet gegenseitiges Verstehen.

Das ist nicht gleichbedeutend mit Kommunikation. Kommunikation findet in meiner Musik statt, mit mir selbst. Wissen Sie, was ich unter Kommunikation verstehe? Für mich bedeutet es, daß Menschen sich nicht verstehen. Das ist Kommunikation. Denn dann entsteht aus einem selbst ein bestimmter Grad von Bewußtheit, aus dem heraus eine Anstrengung unternommen wird.

Aber es gibt doch Situationen, in denen jeder Versuch einer Verständigung wirkungslos verpufft, weil die Gegensätze unüberbrückbar sind.

Aber es geht doch nicht um Verständigung innerhalb von Kunst sondern innerhalb von Kultur ... Und Kultur ist doch einfach ein Kaufhaus, in das man jederzeit gehen und alles kaufen kann, was man will - vorausgesetzt, man kann es sich leisten.

Ja, genau das ist es, falls man es sich leisten kann.

Und ich glaube, daß zu viele der jungen Leute in den Kulturbetrieb verwickelt sind. Die Frage ist, wie man sich aus der Kultur zurückziehen kann.

Nicht sich zurückziehen. Aber ich sehe zunächst einmal die Notwendigkeit, neue Arten von Kaufhäusern einzurichten, in denen man z.B. seine Lebensmittel nicht über die üblichen Wege der Herstellung und des Vertriebs bekommt.

Aber gerade das ist doch das Prinzip von Kaufhäusern. Man geht zu Bloomingdale und das Sortiment richtet sich nach dem Geschmack der Mittelklasse, gut. Man möchte was Besseres, man geht zu Lord & Taylor. Und wenn einem das immer noch nicht genügt, geht man in eine Boutique.

Mir fällt gerade ein - als ich in New York ankam, wohnte ich am Washington Square in Greenwich Village, und da gab es ein Delikatessen-Geschäft. Und abends standen da sehr viele Leute herum, die jedesmal, wenn jemand aus der Tür kam, die Hände aufhielten. Es gibt also einige Leute, die keinen Zugang zu bestimmten Geschäften haben. Und dann hörte ich, daß es immer mehr coop-Läden gibt, in denen Leute aus Wohnblöcken einkaufen, die ihre wöchentlichen Einkäufe selbst organisiert haben. Die Ladeninhaber fahren nämlich aufs Land, um dort einzukaufen. Die Waren werden also billiger und sie durchlaufen nicht mehr die üblichen Kanäle. Und wenn ich von neuen Kaufhäusern spreche, meine ich das auf die Kunst übertragen, nämlich Kunst wieder möglich zu machen. Ich weiß also nicht, ob es ausreicht, innere Stärke und eine Identität als Mensch und als Künstler zu besitzen ... wovon Sie vorhin gesprochen haben.

Man kann es schaffen. Innere Stärke muß man nicht haben, man kann auch schwach sein. Es ist besser, an seiner eigenen Schwäche z u leiden, als sich vorzumachen, dies sei Stärke. Ich glaube auch, es geht hier nicht um diesen Gegensatz. Ich glaube, das Ganze ist eher eine Frage des ... des Lernens, was es bedeutet, einsam zu sein.

Ich erinnere mich zum Beispiel an das Village zu meiner Zeit. Damals gab es überhaupt keine Muzak.

Goldene Zeiten.

Wir unterhielten uns. Und einmal war ich für ungefähr ein Jahr in Berlin, und später kam ich wieder in dieses Lokal, in das ich früher immer gegangen war. Und ich kam herein ... es waren andere Leute da, junge Leute ... aber es lief Muzak. Sie unterhielten sich nicht, sie murmelten. Ich weiß nicht, was sie taten. Und ich bin, wissen Sie ...

Und das ist eins der Dinge, die mich in Berlin interessierten, als ich dort lebte; man ging in eine Kneipe und es lief keine Musik.

Aber dann wird zuviel geredet.

Oh, ich glaube nicht, daß man zuviel reden bzw. sich zuviel unterhalten kann. Es sei denn, es geht um Politik, zu eng. Das politische Leben ist zu eng. Und man kann es nicht angreifen. Politik kann man nicht angreifen. Man befindet sich immer in der Defensive, weil die Ziele so edel sind. Wie kann man so hohe und idealistische Ziele angreifen? Es ist unmöglich. Natürlich befinde ich mich im Nachteil, weil ...

Weil ich kein politisch orientiertes Leben führe. Ich befasse mich mit der Praxis eines revolutionären Lebens. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, praktiziere ich Revolution. Entweder ich mache eine Revolution gegen die Geschichte, indem ich beschließe, eine bestimmte Art von Musik zu schreiben oder ich mache sogar Revolution gegen meine eigene Geschichte. Oft habe ich mich schon an die Wand gestellt und mich selber erschossen. Ha ha. Ich befinde mich hinsichtlich der Beziehung zu meiner Arbeit in einer ständigen kontinuierlichen Revolution - und das bedeutet Handeln, sofortiges Handeln; eine sofortige Entscheidung, die nur ich treffen kann, und für die ich mich verantworten muß. Ich verstecke mich nicht gern vor Problemen. Hier sich auf eine gesellschaftlich orientierte Argumentation zurückzuziehen, wäre dasselbe, als wenn man Zuflucht bei der Mutter sucht.

Das ist wahr. Aber manchmal braucht man seine Mutter.

Deshalb, wer sagte das vor kurzem? Ich glaube, es war Paul Valéry - er sagte, wenn etwas schön sei, sei es von Tragik umgeben. Und ich folgere für mich daraus, daß das Schöne in der Isolation geschaffen wird. Und Tragik ist in bestimmter Hinsicht eine Art psychischer Beigeschmack dieser Einsamkeit.

Ich glaube in diesem Zusammenhang nicht, daß die Reaktion einiger junger Leute gegen die Kunst gerichtet ist. Und ich glaube, es ist im Grunde kein großer Unterschied, welche Art von Kunst sie machen, oder welchem Vorbild sie folgen. Ich glaube, diese Gegenreaktion bezieht sich darauf, daß sie nicht einsam sein wollen. Und ich finde, daß der ganze soziale Wandel unter den jungen Künstlern und ihr Bestreben, zusammen zu sein, eine Menge damit zu tun hat. Sie können diese Einsamkeit nicht ertragen.

Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie einsam sind; denn diese Aura von Einsamkeit drückt sich auch allgemein in Ihrer Musik aus.

Ich meine das einfach in dem Sinne, daß man sich von dieser Art Kameraderie und Gruppengeist loslöst, der diesen jungen Leuten gemeinsam zu sein scheint ...

Einfach die Vorstellung in ein Zimmer zu gehen und dort sechs oder sieben Stunden lang zu arbeiten, weil man eben tun muß, was getan werden muß. Das ist der Preis, den wir zu zahlen haben. Und ich habe nicht das Gefühl, daß sie diesen Preis bezahlen wollen. Und das hat mit Kunst nichts zu tun. Sie sind immer unterwegs - entweder sie sind hier oder sie sind dort.

Ich glaube, man kann nicht umhin, Ihnen dies aufgrund Ihrer Integrität als Mensch und als Künstler zu glauben.

Aber Gott möge Sie schützen, und ich wünsche Ihnen viel Glück ... und alles, was ich Ihnen für das Leben wünschen kann, ist, einsam zu sein.

Copyright © 1976 Walter Zimmermann

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